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Rezension - Sönke Neitzel, Harald Welzer: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben. 23.12.2013

ZC 2013-5 Titel: Friedenspolitische Kritik am Koalitionsvertrag

(Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 2012; 528 Seiten; 12,99 Euro) von Brunhild Müller-Reiß

Die britischen und US-amerikanischen Geheimdienste hatten während des Zweiten Weltkrieges tausende deutsche Kriegsgefangene systematisch abgehört. Aus diesen nahezu unüberschaubaren Quellen haben die beiden Autoren Neitzel und Welzer Dokumente ausgewählt und zu einem Buch verarbeitet. Die besondere Bedeutung der Gesprächsprotokolle besteht nach Welzer darin, dass hier Quellen vorliegen, die nicht mit einer bestimmten Absicht erstellt worden sind, sondern darin, dass die Gespräche der Soldaten in den Lagern „absichtslos“ „in Echtzeit“ geführt wurden, ohne dass die Soldaten wussten, dass sie abgehört wurden und ohne das Wissen darüber, wie der Krieg ausgehen würde. Um es gleich vorweg zu sagen: Die Aussagen der Soldaten sind kaum erträglich! Die „Referenzrahmen“ (Deutungs- und Handlungsspielräume, die Menschen in ihrem Alltag eine schnelle Orientierung und damit Verhaltenssicherheit gewährleisten), in die die Autoren die Aussagen der Soldaten einordnen, ermöglichen es den LeserInnen, sich eine gewisse Distanz zu schaffen. Ziel der Autoren ist es, herauszufinden, „was an diesen Referenzrahmen nationalsozialistisch war.“ Und sie betonen gleich zu Anfang, dass die Soldaten „keinen Krieg aus Überzeugung führen, sondern weil sie Soldaten sind und Kämpfen ihre Arbeit ist.“ (S. 14)

Krieg als Referenzrahmen: Mit dem Eintritt in den Krieg, durch den Übertritt in die „totale Institution“ Militär ergreife diese die „vollständige Verfügung über die Person“ und Reflexion finde kaum noch statt. (S. 31) Krieg brutalisiere Menschen nicht besonders, sondern es sei so, dass „Soldaten von vorneherein extrem gewalttätig sind.“ (S. 84) Allenfalls bezöge sich der Zeitraum der Brutalisierung auf wenige Tage. Ein Soldat berichtet z. B. von seiner Aufgabe, Bomben auf Häuser zu werfen. Am zweiten Tag seiner Tätigkeit habe er „keine Freude daran“ gehabt. „Am dritten Tag war es mir gleichgültig und am vierten Tag hatte ich meine Lust daran. Es war ein Frühstücksvergnügen, einzelne Soldaten mit Maschinengewehren durch die Felder zu jagen und sie dort mit ein paar Kugeln im Kreuz liegen zu lassen“ (S. 84).
Die Kameradschaftsgruppe wird zur alternativlosen Bezugsgruppe, Handeln auf Befehl, Gehorsam und Hierarchien sind der Rahmen für soldatisches Handeln. Ein Soldat sagt: „Wir sind wie ein MG. Eine Waffe, um Krieg damit zu führen“ (S. 32) Die Soldaten werden zu „Mordwaffen“, die Frage moralischer Verantwortung und eine entsprechende Verweigerung stellt sich in diesem Kontext nicht (mehr). Im Soldatenleben übernehmen Befehl- und Gehorsamsstrukturen und die Kameradschaftsgruppe die Orientierungsfunktion. Die Teilhabe an einer gemeinsamen Welt mit Gemeinschaft, Verlässlichkeit, Halt, Anerkennung und gemeinsamen Erlebnissen und Werten schafft einen Erfahrungsrahmen, der auch gemeinsame Brutalität ermöglicht.

„Krieg als Arbeit“: „Gewalteinsatz, Gewaltandrohung, das Töten oder doch Schmerzzufügen ließ sich als Arbeit begreifen und damit als sinnvoll, zumindest als notwendig und unvermeidbar erfahren.“ (S. 37) „Menschen töten aus den verschiedensten Gründen. Soldaten töten, weil es ihre Aufgabe ist.“ Ob diese lapidare Aussage am Ende des Buches so umfassend stehen bleiben kann, ist zu bezweifeln. Freude am Töten. Massenerschießungen von ZivilistInnen, das Verbrennen von Menschen in abgeriegelten Gebäuden, „regellose“ Menschenjagden. „Sinnvolle Arbeit“?

Spaß am Töten: Insgesamt ist in extrem vielen Soldatenäußerungen vom Vergnügen bei der „Arbeit des Tötens“ die Rede: je grausamer die Szene, desto mehr wurde gelacht – zumindest wenn man den Erzählenden glaubt. „Spaß“ und „Mordsspaß“ wird als Begleitung von Gewalt und Töten immer wieder genannt: „etwas sehr Schönes“ sei es gewesen, in entgegenkommende Autos „immer mit der Kanone reinzuhalten.“ (S. 106) Lachen und „Jokes“ können als Bestätigung der Männer untereinander, an derselben Welt teilzuhaben, gesehen werden – aber auch der Versuch, mit Protzerei und Übersprungverhalten das Schreckliche gemeinsam zu bewältigen spielt sicher eine Rolle.

Das Unterkapitel „Sex“ mutet mit dieser lapidaren Überschrift seltsam an, denn das, was die Männer erzählen, ist „sexuelle Gewalt im Krieg“. Es ist sicher richtig, dass es einvernehmlichen Sex, vermutlich sogar Liebesbeziehungen gab, aber die Äußerung, „denn Sexualität zählt zu einem der wichtigsten Aspekte des menschlichen Lebens, des männlichen zumal“ (S. 217/218), lässt männliche Sexualität als notwendig zu befriedigendes Bedürfnis erscheinen – auch im Krieg. Dass es dabei um Macht, Gewalt, Demütigung und Unterwerfung geht, wird nicht hinreichend deutlich. Äußerungen der Soldaten selbst sprechen eine deutliche Sprache: Es ist vom „hacken“, „bürsten“, „ficken“ „mitunter bis zur Bewusstlosigkeit des Opfers“ (S. 219) die Rede – anschließend erfolgte dann fast immer die Erschießung. Unter „hallendem Gelächter“ wird berichtet, eine „Spionin“ sei „geschnappt“ worden: „und dann haben wir zuerst mit einem Stecken auf die Äpfelchen gehauen, dann haben wir ihr den Hintern verhauen mit dem blanken Seitengewehr. Dann haben wir sie gefickt, dann haben wir sie rausgeschmissen, dann haben wir ihr nachgeschossen, da lag sie auf dem Rücken, da haben wir (mit) Granaten gezielt. Und jedes Mal wenn wir in die Nähe trafen, hat sie aufgeschrien. Zum Schluss ist sie dann verreckt und wir haben die Leiche weggeschmissen.“ (S. 272)

In ihrer historischen Analyse betonen die Autoren die teilweise euphorische Stimmung zu Beginn der NS-Zeit, „an etwas ganz Neuem, Gewaltigen beteiligt zu sein.“ (S. 48)
Der ökonomische Aufstieg und die NS-Rhetorik, als „arische“ Menschen etwas Besonderes zu sein, führte zu dem Bewusstsein, „Menschen seien kategorial ungleich.“ (S. 48) Gleichzeitig ging allerdings im „Alltag“ zunächst alles so weiter. Dennoch „verändert sich politisch und kulturell zugleich Gravierendes“ (S. 55): die Gesellschaft teilt sich in eine „Mehrheit der Zugehörigen und eine Minderheit der Ausgeschlossenen.“ (S. 56), Volk und Volksgemeinschaft wurden als Bezugsgrößen „moralischen Handelns“ definiert. Die „Rassenzugehörigkeit“ wurde zum politischen Programm und zum Kriterium, wie Menschen zu behandeln seien. Die Autoren nennen dies eine „partizipative Diktatur“, bzw. die „Formierung der partizipativen Ausgrenzungsgesellschaft“. (S. 65/66) Dieses „Menschen- und Untermenschenkonzept“ und die entsprechend „geteilte Moral“ erklärten, warum liebevolle Menschen gleichzeitig hemmungslose Mörder sein konnten. Zu Beginn des Faschismus hatte der Militarismus in Deutschland bereits eine historisch lange militaristische Tradition von den „Einigungskriegen“ von 1864 bis 1871, über den Deutsch-Französischen Krieg und den Ersten Weltkrieg bis in die Weimarer Republik. Der „Wertekanon“ von Ehre, Satisfaktionsfähigkeit, Befehl und Gehorsam und hierarchischem Denken gipfelte in Sozialdarwinismus, Rassismus und Nationalismus in der NS-Zeit. Die geistig kriegsbereite militarisierte „Schicksalsgemeinschaft“ war durch den „Schandfrieden“ von Versailles auf Rachegefühle getrimmt. „Vaterland“, „Manneszucht“ und „Mannesehre“ hatten ihren Platz im „Stahlhelm“, in der DNVP und weit darüber hinaus. Die Heeresleitung sprach bereits 1924 von der „nationalen und wehrhaften Erziehung … zur Erzeugung von Hass gegen den äußeren Feind … und dem staatlich geführten Kampf gegen Internationale, Pazifismus, gegen alles Undeutsche.“ (S. 71) Die Kriegsmarine sei mit „rücksichtsloser Entschlossenheit, fanatischster Hingabe, härtestem Siegeswillen“ zu führen, so Großadmiral Dönitz 1943 (zit. S. 74). Und die Praxis der Ordensverleihungen tat ein Übriges bei der Verankerung militärischer Werte tief im Referenzrahmen der Soldaten“ (S. 81). „Weil genau das nach zeitgenössischen Maßstäben als abweichend gilt und das gegenmenschliche Verhalten als konform, haben wir mit dem ganzen Geschehenszusammenhang des ‚Dritten Reiches‘ und der von ihm ausgehenden Gewalt ein gigantisches Realexperiment, wozu psychisch normale und ihrem Selbstbild nach gute Menschen fähig sind, wenn sie etwas innerhalb ihres Referenzrahmens für geboten, sinnvoll oder richtig hielten.“ (S. 46)

Bewertung: Vieles von dem, was die Autoren wiedergeben, eröffnet einen neuen Blick auf militärische Welten. Allerdings überzeugt die sozialhistorische Herangehensweise der Autoren nur begrenzt: Sie schafft zwar Distanz zu den teilweise kaum erträglichen Äußerungen der Soldaten über ihr noch unerträglicheres Verhalten im Zweiten Weltkrieg – kanalisiert aber damit und mit den vielfachen Hinweisen auf die „Banalität“ ihrer „Arbeit im Krieg“ die notwendige Empörung über genau dieses Tun und das vielfache Gelächter der Soldaten über ihre „Heldentaten“. Insgesamt bleibt dennoch festzuhalten: Die Wiedergabe, Bearbeitung und Analyse der aufgefundenen Soldatenprotokolle kann von uns allen sehr gut genutzt werden, um das Handeln der Soldaten im Krieg zu verstehen und dem „Kämpfen, Töten und Sterben“ ein Ende zu bereiten. Die Autoren sagen „Wenn Krieg ist, dann ist das so. Man sollte sich stattdessen besser fragen, ob und unter welchen Bedingungen Menschen vom Töten ablassen können.“ (S. 421) Das heißt noch umfassender ausgedrückt: Unter welchen Bedingungen entstehen Kriege und wie kann unser Wissen um die Bedingungen der „Arbeit des Kämpfens“ dazu beitragen, den Kriegen in aller Welt ein Ende zu bereiten.

Veröffentlicht in ZivilCourage 2013/5 im Dezember 2013 von Brunhild Müller-Reiß

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