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Gefährdete Freiheiten: Nach den Revolution in Tunesien und Ägypten28.03.2011

Zivilcourage 2011-01

Von Claudia Haydt (für Zivilcourage 1-2011)

Das ist ein Sieg für die Menschen und für die Revolution“. Mit dieser für ihn eher untypischen Begeisterung begrüßte der Sprecher der tunesischen kommunistischen Arbeiterpartei Hamma Hammami Anfang März die Nachricht, dass eine zentrale Forderung der Protestierenden erfüllt wurde. Am 24. Juli wird in allgemeinen Wahlen eine verfassungsgebende Versammlung gewählt werden.

Im Vergleich zur Flucht des früheren Präsidenten Ben Ali im Januar klingt dies auf den ersten Blick weniger spektakulär. Für Tunesien beginnt damit jedoch definitiv ein neues Kapitel seiner Geschichte. Für viele ist der erfolgreiche Kampf des Winters 2010/2011 für eine selbstbestimmte Zukunft ein ähnlich wichtiger Schritt wie das Ende der Kolonialzeit. Worin besteht des Neue, warum konnte der Protest so erfolgreich sein und wo lauern die größten Gefahren für den Umbruch? s war und ist ein zähes Ringen, aber spätestens seit Ben Ali von Tunesien nach Saudi-Arabien fliehen musste, ist klar, dass die Protestierenden in Tunesien nicht nur irgendein politischer Faktor sind, irgendeine diffuse „Zivilgesellschaft“, sondern ein selbstbewusster politischer Akteur. Sie erkämpften eine Regierungsumbildung nach der anderen, bis nun seit dem 7. März wirklich alle wesentlichen Reste des alten Regimes aus der Regierung verschwunden sind. Gleichzeitig wurde auch die politische Polizei in Tunesien aufgelöst, zusammen mit der gesamten Abteilung für Staatssicherheit.

Diese Polizei war der eigentliche Machtapparat des alten Regimes. Tunesien war keine Militärdiktatur, sondern eine Polizeidiktatur, die zehntausende Menschen aus politischen Gründen verhaftete, die folterte und einschüchterte. Doch dies scheint endgültig vorbei, die eigentliche Macht liegt, wenigstens für die nähere Zukunft, auf den Straßen Tunesiens. Die Menschen beobachten sehr genau die politische Entwicklung und gehen für alles, was als „Verrat an der Revolution“ verstanden wird, auf die Straße.


Wirkungsvolle Verknüpfung
von politischer und sozialer Frage

Die tunesische Revolution begann in der Provinz, im armen und unterentwickelten Landesinneren. Ein armer Gemüsehändler in Sidi Bouzid ertrug es nicht mehr, täglich mühsam um das Überleben seiner Familie zu kämpfen, Schmiergelder für seinen Gemüsewagen zahlen zu müssen und dabei auch noch gedemütigt zu werden. Er zündete sich an. Der Schock und die Wut über diese Selbstverbrennung sprang über, erst auf andere Städte im Landesinneren, dann auf die Hauptstadt und schlussendlich auf zahlreiche andere arabische Staaten.

Auch wenn die Ursachen für die Revolten in den verschiedene Teilen Tunesiens und auch in den einzelnen arabischen Staaten unterschiedlich sind, so gibt es doch gemeinsame Wurzeln: steigende Lebensmittelpreise, soziale Ungerechtigkeit, wachsende Armut und Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit der jüngeren Generationen, Mangel an Demokratie, Unterdrückung der Opposition, Kleptokratie der Herrschenden sowie Korruption. Der weitgehende Ausschluss der Bevölkerung aus den politischen Entscheidungsprozessen gekoppelt damit, dass es immer mehr Menschen zunehmend unmöglich ist, für sich und ihre Familien eine ökonomische Zukunft aufzubauen, wurde und wird als „Raub der Würde“ interpretiert. Entsprechend große Erwartungen gibt es nun für demokratische Partizipation und soziale Gerechtigkeit.

Wesentliche Träger des Protestes in Tunesien waren die Gewerkschaften - jedoch nicht deren Führung, die war eingebunden in Ben Alis Regime. Die Gewerkschaftsführer mussten bei Reden des Präsidenten zusammen mit den Führern der legalen Oppositionsparteien in der ersten Reihe sitzen, um vor laufenden Kameras zu applaudieren, und sie mussten vor Wahlen mit ihrer Unterschrift die jeweilige Wiederkandidatur von Ben Ali für das Präsidentenamt „begrüßen“.

Der Druck kam aus der Basis der Gewerkschaft, aus den Betrieben genauso wie aus den Krankenhäusern oder von den Anwaltsgewerkschaften. Die Basis hat ihre Führung im wahrsten Sinne des Wortes vor sich hergetrieben. Sie war dabei übrigens so erfolgreich, dass drei der vier Gewerkschaftsfunktionäre, die versuchten, in der ersten Übergangsregierung einen Ministerposten zu ergattern, diesen auf Druck ihrer Basis innerhalb weniger Stunden wieder verlassen mussten. Der Kampf um bessere Arbeitsbedingungen, um höhere Löhne und die Verbesserung der sozialen Situation ist genauso wie der Kampf um politische Selbstbestimmung noch längst nicht abgeschlossen. Beides ist eng miteinander verbunden, und jede zukünftige Regierung muss Antworten auf die sozialen Problemlagen finden.


Entlarvung der Kollaboration des Westens mit diktatorischen Regimen

Weder die Diktatur in Tunesien noch die in Ägypten oder in zahlreichen anderen arabischen Staaten hätte ohne die tatkräftige Unterstützung des Westens funktioniert. Sowohl in arabischen als auch in den europäischen Medien wurde deswegen in den letzten Wochen zunehmend das große Ausmaß der Kollaboration des Westens mit den Diktatoren in der Region thematisiert.

Rüstungsexporte, militärische und polizeiliche Ausstattungs- und Ausbildungshilfe sowie Geheimdienstkooperation haben Diktatoren stabilisiert, trugen und tragen zur Unterdrückung der eigenen Bevölkerung bei. So kommt etwa Equipment zum Stören von Sendefrequenzen „Made in Germany“ in Libyen zum Einsatz. Zusammen mit problematischer Wirtschafts- und Geheimdienstkooperation sind die Fakten zwar nicht wirklich neu, es gibt aber nun endlich eine mediale Aufmerksamkeit für diese Thematik. Westliche Staaten haben besonders im so genannten „Krieg gegen den Terror“ eng mit Tunesien und Ägypten zusammengearbeitet und kooperierten beim Foltern von Terrorverdächtigen, die zum Teil von westlichen (vor allem US-amerikanischen) Geheimdiensten eigens in diese Länder verschleppt wurden.

Die Kollaboration beschränkte sich jedoch nicht nur auf die Verfolgung mutmaßlicher Terroristen, sondern auch auf die Flüchtlingspolitik. Die Europäische Union hatte in den letzten Jahren mit nahezu jeder Diktatur in der Region Rückführungsabkommen abgeschlossen, hatte militärische Ausrüstung zum Kampf gegen diese Flüchtlinge geliefert und bewusst ignoriert, dass Flüchtlinge in den Lagern einiger nordafrikanischen Staaten vergewaltigt und misshandelt wurden. Die EU hatte die Drecksarbeit für die Abschottung der „Festung Europa“ gerne nach außen delegiert und sich dies auch einiges kosten lassen. Nun nutzen täglich Menschen die Chance, aus Tunesien oder anderen nordafrikanischen Ländern Richtung Europa zu fliehen, und Europa ist keineswegs glücklich über diese „neuen Freiheiten“. Anstatt solidarisch die wenigen tausend Flüchtlinge auf EU-Staaten zu verteilen - die Dimensionen sind ja weit geringer als die z.B. die Flüchtlingsbewegungen nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs - wird bewusst vor allem auf Lampedusa eine humanitäre Katastrophe herbeigeführt, um Flüchtlinge abzuschrecken und Akzeptanz für noch aggressivere Flüchtlingspolitik zu schaffen.

Dass bei entsprechendem politischen Willen wesentlich größere Zahlen von Flüchtlingen transportiert werden können, zeigte Ägypten, das Anfang März innerhalb weniger Tage 60.000 Menschen vom tunesisch-libyschen Grenzgebiet nach Ägypten ausflog.

Die europäische Grenzschutzagentur Frontex versucht, die Chance zu nutzen, um erweiterte exekutive Befugnisse zu bekommen, damit - solange bis die Abschottung der Flüchtlinge wieder an Dritte delegiert werden kann - die EU selbst die aggressive Abschottungspolitik fortsetzen kann.


Wem gehört das Mittelmeer?

Die Wechselwirkung zwischen den Entwicklungen in den verschiedenen arabischen Staaten konnte eine staunende Weltöffentlichkeit in den letzten Monaten beobachten. „Die arabische Straße“ als politische Gemeinschaft jenseits von Nationalstaaten, als eigenständiger Faktor, darüber wurde auch in der Vergangenheit immer wieder spekuliert, doch nun führt diese neue arabische Öffentlichkeit, die vor allem eine „Al Jazeera Öffentlichkeit“ ist, tatsächlich zu dramatischen politischen Veränderungen.

Sowohl in den Staaten, in denen die Diktatoren bereits gestürzt wurden (Tunesien, Ägypten) als dort, wo die Kämpfe noch andauern (Bahrain, Libyen, Jemen etc.) oder wo vorläufig nicht mit einem Umsturz zur rechnen ist (Syrien, Marokko etc.), können die (neuen) Regierungen nicht weiterhin Politik gegen große Teile der Bevölkerung machen. Dies gilt sowohl für die Innen- als auch für die Außenpolitik der Länder. Neben den Erwartungen der Bevölkerung an demokratische Rechte und soziale Gerechtigkeit erwarten die Menschen auch eine anderen Außenpolitik ihrer Staaten.

Beinahe jeder erzählte mir während meines Aufenthalts im Februar in Tunesien, dass sich nun auch die Beziehungen seines Landes und der anderen arabischen Staaten zu Israel, aber auch gegenüber den USA und der EU ändern müsse. Die konkreten Forderungen kann jeder aufzählen: eine Ende der Besatzung, ein gerechter Frieden für die PalästinserInnen und ein Ende der aggressiven Kriegspolitik. Niemand stellt sich als Weg dorthin irgendwelche kriegerischen Auseinandersetzung vor, doch das Bedürfnis, die eigene Außenpolitik an „Gerechtigkeit“ zu orientieren, ist überwältigend, und es bleibt zu hoffen, dass sowohl die westlichen Regierungen als auch die Führung Israels diese Stimmung respektieren und ihre Politik entsprechend ändern.

Was sich geostrategisch im Bereich des Mittelmeers zur Zeit abzeichnet, ist ein machtpolitischer Umbruch, der kaum überschätzt werden kann. Die Nato und die EU verlieren die Kontrolle über diesen Raum - oder müssen zumindest befürchten, sie zu verlieren. Die Nato hatte über den so genannten Mittelmeer-Dialog (die regionale Variante der Partnerschaft für den Frieden) und die EU über diverse Partnerschafts- und Assoziierungsabkommen das Mittelmeer fest unter ihrer Kontrolle. Nun könnte sich dies ändern, spätestens wenn nach demokratischen Wahlen tatsächlich eine eigenständige Außenpolitik in diesen Ländern beginnt.

Allein diese Möglichkeit ist für Nato und EU so bedrohlich, dass sie zurzeit alles versuchen, um diesen Prozess einer autonomen Entwicklung Nordafrikas irgendwie zu kontrollieren.


Keine militärische und keine ökonomische Intervention!

Einerseits wird zur Zeit jeder Vorwand genutzt, um eine militärische Präsenz der Nato in Nordafrika (neu) zu etablieren. Die Bundeswehr transportiert mit Kriegsschiffen Flüchtlinge, führt bewaffnete Evakuierungsmaßnahmen durch, britische und US-amerikanische Spezialeinheiten versuchen, Einfluss in Libyen zu bekommen, und aus humanitären Gründen soll nun eine Flugverbotszone eingerichtet und durchgesetzt werden. Die Europäische Union, die USA und Deutschland - alle versuchen zurzeit beinahe in einem Wettlauf miteinander, auch auf die zivile politische Entwicklung in Tunesien und Ägypten Einfluss zu nehmen. Stiftungen werden eingerichtet, Parteien gefördert und Medien „geschult“. Mit solchen Hilfen zur „Demokratisierung“ hofft der Westen, die neuen Eliten auf seine Seite zu ziehen. Daneben sind Tunesien und Ägypten abhängig von internationalen Krediten, die wahrscheinlich sehr bald an Bedingungen (z.B. verstärkte Marktöffnung) gekoppelt sein werden.

Es ist also damit zu rechnen, dass der Westen auf verschiedenen Eben versuchen wird, den Freiraum, den sich die Menschen erobert haben, wieder einzuschränken. Genau hier liegt die Aufgabe einer kritischen internationalen Öffentlichkeit.

Die Bevölkerungen in Tunesien und Ägypten haben einen hohen Preis dafür gezahlt, ihre Diktatoren loszuwerden, sie haben gezeigt, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen können. Sie brauchen keine „Demokratisierung“ von außen. Aber sie brauchen unsere Solidarität, damit „der Sieg der Revolution“ und damit die Hoffnungen der Menschen nicht durch militärischen oder ökonomischen Druck unserer Regierungen wieder zunichte gemacht werden.

Claudia Haydt ist DFG-VK-Mitglied und im Vorstand der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.

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