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Das »Luxusproblem« Wehrpflicht04.02.2011

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Nach dem Willen von Guttenberg soll Krieg der Normalfall werden

von Stefan Philipp

Man stelle sich vor, die Beteiligung der Bundeswehr am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Nato im Frühjahr 1999 gegen Jugoslawien hätte nicht eine eben ins Amt gelangte rot-grüne Bundesregierung angeordnet und von ihrer Parlamentsmehrheit absegnen lassen, sondern eine von CDU/CSU und FDP geführte. Wahrscheinlich hätte es einen Volksaufstand gegeben, angeführt von der SPD und den Bündnisgrünen, und einen Aufruf zum Generalstreik vom DGB.

Und man stelle sich umgekehrt vor, SPD und Grüne hätten in ihrer Regierungszeit die Wehrpflicht [1] abgeschafft. CDU und CSU wären wohl dagegen Sturm gelaufen, hätten »Vaterlandsverrat« gerufen und das christliche Abendland untergehen sehen.

Was können uns diese beiden Fantasie-Szenarien lehren? Zunächst einmal, dass eine »linke« Regierung den ersten bundesdeutschen Krieg führen musste, eine »rechte« hätte das schwerlich durchsetzen können; und: Dass nur eine »rechte« Regierung die Wehrpflicht abschaffen konnte/kann, eine »linke« hat und hätte das nicht geschafft.

Diese auf den ersten Blick seltsamen Konstellationen zeigen zweitens, dass es sich bei der Frage von Kriegführen und Wehrpflichtabschaffung um tiefreichende Probleme handelt, deren letztliche Entscheidung und Lösung grob vereinfachend sind und die Dimensionen unterschiedlicher Interessenslagen und Grundüberzeugungen vernebeln; die Entscheidungen sind jeweils der (vorläufige) Abschluss jahre- und jahrzehntelanger Prozesse und Auseinandersetzungen in der Gesellschaft und in den Parteien. Der Weg von den »Engeln von Phnom Penh« über die verbrecherischen Angriffskrieger des Überfalls auf Jugoslawien bis zu den Mördern in Nadelstreifen und Uniform des Kundus-Massakers war weit und lang.

Auch die Frage nach der Wehrpflicht war mindestens ab der Auflösung der Blockkonfrontation und der radikalen Verkleinerung der deutschen Armee (Bundeswehr: ca. 500.000 Soldaten; NVA: ca. 170.000) auf ca. 250.000 SoldatInnen eine offene und aktuelle. Weder gab es einen Feind oder eine Bedrohung, die die Zwangsverpflichtung junger Männer für »Verteidigungszwecke« noch hätten auch nur einigermaßen begründen können, noch war die Heranziehungspraxis angesichts nach mehreren Hundertausenden zählenden männlichen Jahrgängen und reduzierter Truppenstärke auch nur annähernd gerecht, die Wehrpflicht also in keiner Weise allgemein.

Warum hat es also so lange gedauert, bis die Wehrpflicht nun endlich fällt? Und wer hat sich aus welchen Gründen damit durchgesetzt?

Auf den ersten Blick scheint die Antwort einfach: Die 2009 gewählte CDU/CSU/FDP-Regierung steckte sich für ihren ersten »normalen« Haushalt (der 2009 für das Jahr 2010 war bei Regierungsantritt praktisch schon festgelegt) und der Finanzplanung für die Folgejahre ehrgeizige Sparziele. Für den Einzelplan 14, den Haushalt des Bundesministers der Verteidigung, sind relevante Kürzungen bzw. die Begrenzung des Ausgabenanstiegs durch den Verzicht auf Kriegseinsätze, den Verzicht auf Rüstungsprojekte und/oder den Abbau von Personal möglich.

Die beiden ersten Möglichkeiten entsprechen nicht der politischen Logik der Regierung und der sie tragenden Parteien. Die dritte lag hingegen auf der Hand, schon alleine eine wirtschaftliche Kosten-Nutzen-Analyse ergibt, dass die »Armee im Einsatz« falsch strukturiert ist; die sog. Heise-Kommission formuliert es so: »Zurzeit bedarf es 250.000 Soldatinnen und Soldaten, um gerade einmal 7.000 in den Einsatz zu bringen. Mit anderen Worten: Hinter jedem Soldaten im Einsatz stehen 35 Kameraden und 15 zivile Mitarbeiter im Grundbetrieb und zur Unterstützung. Damit sind nur einige der Defizite der Bundeswehr beschrieben.« (siehe Seite 15 ff. in diesem Heft) Wehrpflichtige wurden und werden bei Kriegseinsätzen im Ausland grundsätzlich nicht eingesetzt, sie binden aber für Musterung, Verwaltung und Einplanung, Ausbildung und Unterkunft etc. Personal und Finanzen. Die Wehrpflicht ist damit im Blick auf die militärischen Aufgaben und Notwendigkeiten disfunktional. Kriegsminister Guttenberg hat das klar erkannt - und schnell die Konsequenz gezogen: Abschaffung der Wehrpflicht [2].

Damit ist auch indirekt der Beweis erbracht, dass die Wehrpflichtarmee Bundeswehr in den letzten Jahrzehnten unter militärischen Gesichtspunkten eine gigantische Verschwendung war, purer Luxus sozusagen. Für Luxus kann es mehrere Begründungen geben, z.B. dass man ihn sich leisten kann, weil die finanziellen Ressourcen groß genug sind, oder weil er angenehme Nebeneffekte jenseits klarer Ziele hat. Diese Nebeneffekte sind es, aus denen sich das Festhalten an der militärisch längst obsolet gewordenen Wehrpflicht erklären lässt. Der Dienstpflicht-Gedanke gehört - zumal in Deutschland - zum Wesenskern konservativen Staatsverständnisses, die Idee also, dass die Bürger etwas für »ihren Staat« zu leisten hätten. Insofern ist es kein Wunder, dass CDU/CSU, aber auch die strukturkonservativen Teile der SPD bis zum Schluss an der Dienstpflicht-Idee festhielten (und zum Teil noch halten).

In der verfassungsrechtlichen Systematik des Grundgesetzes, ist die Wehrpflicht nach Artikel 12a eine Ausnahme von der in Artikel 12 garantierten Freiheit der Berufswahl und dem Verbot von Zwangsarbeit. Ihre Abschaffung ist also - rechtlich und tatsächlich - eine Ausweitung der Freiheit bzw. eine Bestätigung der Freiheitsgarantien des Grundgesetzes und eine Realisierung des verfassungsrechtlichen Normalzustands.

Gewinner und Verlierer

Wer hat sich also durchgesetzt? Guttenberg will eine effiziente »Armee im Einsatz«, also Krieg, und verzichtet deshalb auf die Wehrpflicht. Beides zusammen geht nicht (mehr). Dass ihm CDU und CSU - fast einstimmig auf ihren Parteitagen - gefolgt sind, zeigt, dass sich »die Konservativen« ideologisch, politisch und kulturell umorientieren. Die bisherige Position - von allem ein bisschen: ein bisschen Krieg(sbeteiligung), aber mit humanitärem Anstrich und nicht so imperialistisch wie die USA; ein bisschen Dienstpflicht-Sozialisation mit massenhaften Ausnahmen - wird klar in Richtung Krieg aufgelöst. Für diesen Kurs steht Guttenberg, und es ist beängstigend, dass er von vielen schon als zukünftiger Kanzler gesehen wird.

Und die Friedensbewegung, die AntimilitaristInnen, die Kriegsdienstverweigerer? KDV war für sie immer auch ein Vehikel, das »friedliche Denken« zu verbreiten. Strategisches Ziel war lange die Steigerung der KDV-Zahlen nach dem Motto »Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin«.

Da seit Beginn der Kriegspolitik kein einziger Wehrpflichtiger zwangsweise im Ausland eingesetzt wurde, fielen das inhaltliche Engagement für Kriegsdienstverweigerung sowie die ansteigenden und sich auf hohem Niveau stabilisierenden KDV-Zahlen einerseits und die reale Politik zunehmend auseinander - KDV hatte als symbolische Handlung ihren Wert und als Ausdruck der Mehrheitsmeinung der Bevölkerung gegen deutsche Kriegseinsätze, real kriegsverhindernde Wirkung hatte sie nicht.

Eine Reflexion dieses Auseinanderfallens von inhaltlichem Anspruch der Kriegsdienstverweigerung und zunehmender deutscher Kriegspolitik wurde z.B. in den Mitgliedsorganisationen der Zentralstelle KDV und auch in der DFG-VK nicht geleistet. Ein relevanter Teil der DFG-VK-Mitglieder war in den 1970er und 1980er Jahren über die eigene Kriegsdienstverweigerung und die Unterstützung im KDV-Verfahren zu der Organisation gestoßen. Diese Verbindung über den eigenen Erfahrungshorizont prägte organisationsweit die Wahrnehmung der KDV und förderte die Haltung der KDV-Beratung gegenüber als zentraler Aufgabe - auch noch zu Zeiten, als es real keine Notwendigkeit für und keinen Bedarf nach intensiver Vorbereitung auf ein schwieriges KDV-Anerkennungsverfahren mehr gab (das Verfahren war 2003 auf ein rein schriftliches Verfahren umgestellt worden).

Das Verdienst der Kriegsdienstverweigerer, zumal der Totalen Kriegsdienstverweigerer, und ihrer Organisationen ist es aber, die Unvereinbarkeit von Gewalt und Freiheit sowie Krieg als moralischer und ethischer Frage und eben nicht lediglich als realpolitische Interessensfrage thematisiert zu haben. Ihr Bestehen auf dem menschenrechtlichen Aspekt der Wehrpflicht und als Freiheitsthema hat mit dazu beigetragen, dass die Dienstpflicht-Ideologen gesellschaftlich zunehmend an Boden verloren haben.

Die Abschaffung der Wehrpflicht ist also ein Sieg über das konservativ-reaktionäre Dienstpflicht-Denken und menschenrechtlich ein Freiheitsgewinn. An der Kriegsführungsfähigkeit und der Befürwortung von und dem Willen zu deutscher Kriegspolitik in der Mehrheit der politischen Klasse ändert sie nichts. So wie die Dienstpflicht-Ideologen nun gezwungen sind, nach neuen Wegen zu suchen, ihr reaktionäres Denken gesellschaftlich wirksam zu machen (und sich freuen können, dass Krieg zum normalen Interessensdurchsetzungsmittel wird), so müssen PazifistInnen und AntimilitaristInnen entschiedener und radikaler in ihrer Ablehnung von Krieg werden.


Stefan Philipp ist Redaktionsleiter von Forum Pazifismus, aktiv in der DFG-VK und stellvertretender Vorsitzender der Zentralstelle KDV. Er verweigerte Anfang der 1980er Jahre zunächst die Musterung und dann die Einberufung zur Bundeswehr und saß wegen »Fahnenflucht« und »Gehorsamsverweigerung« mehrere Monate im Gefängnis.

[1] Die Begrifflichkeit »Wehrpflicht« ist verharmlosend, richtigerweise müsste man von Kriegsdienstpflicht sprechen.
[2] Formal wird die Wehrpflicht lediglich ausgesetzt, d.h. der Art. 12a GG bleibt erhalten. Faktisch kommt die Aussetzung aber der Abschaffung gleich. Militär und Politik gehen davon aus, dass es eines Vorlaufs von 10 Jahren bedürfe, um die Wehrpflicht als reale Zwangsverpflichtung wieder einzuführen.

Erschienen in Forum Pazifismus, Heft 27/28 (III. + IV. Quartal 2010)


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