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Neue Strategie für ein überholtes Bündnis - Vor dem Nato-Gipfeltreffen in Lissabon15.11.2010

NO TO NATO

Von Tobias Pflüger (für ZivilCourage – Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus – 4/2010)

Am 19. und 20. November wird in Lissabon der nächste Gipfel der Staats- und Regierungschefs der Nato stattfinden. Ein Thema ist der Nato-Kriegseinsatz in Afghanistan. Der Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen sagte dazu, es solle beschlossen werden, die Ausbildung afghanischer Uniformträger zu forcieren und die „Übertragung der Sicherheitsverantwortung“ an afghanisches Militär und Polizei bis Ende 2014 vorzunehmen, wenn diese dann dazu in der Lage seien.

Das läuft auf ein langfristiges Nato-Engagement in Afghanistan hinaus, Schwerpunkte sind dabei immer mehr Aufstandsbekämpfung und Drohneneinsätze und extralegale Tötungen mit Drohnen. Die rechtswidrige Ausdehnung der Nato-Angriffe auf Pakistan zeigt die exorbitante Eskalationsgefahr des Nato-Krieges.


„Nato Version 3.0“

Hauptsächlich soll auf dem Lissabonner Gipfel aber, so wurde es beim letzten Nato-Gipfel in Straßburg vereinbart, ein neues strategisches Konzept der Nato verabschiedet werden.

Das wäre das sechste Strategische Konzept der Nato. Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen spricht vom neuen Konzept wie von einer neuen Softwareversion: „Die Zeit für die Nato 3.0 ist gekommen.“

Allerdings soll das „Strategische Konzept“ nicht mehr so heißen. Es setzt sich wohl durch, dass, so die FAZ, das Dokument eher „Beitrag der Nato zu Frieden und Sicherheit in der Welt“ oder „Aufgaben und Mittel der Nato“ heißen soll. Der Name „Strategisches Konzept“ sei „zu nah am Kalten Krieg, als die strategischen Konzepte der Nato streng geheime Militärdokumente im engeren Sinne waren, während der neue Text eher eine Art sicherheitspolitischer Standortbestimmung werden dürfte“, so die FAZ.

Es sieht so aus, als ob Rasmussen einen inhaltlichen Kompromiss gefunden habe zwischen den osteuropäischen Staaten in der Nato, die Russland als größte Bedrohung ausmachen, und den Interventionisten wie den USA, Frankreich, aber auch Deutschland, die die Nato vor allem als weltweites Kriegsführungsbündnis haben wollen.

Der Entwurf baut auf Überlegungen des sogenannten Nato-Weisenrates auf, einer von der ehemaligen US-amerikanischen Außenministerin Madeleine Albright geleiteten Expertengruppe aus zwölf Nato-Staaten. Im Weisenrat waren neben Madeleine Albright als stellvertretender Vorsitzender Jeroen van der Veer, der Ex-Chef des Energieunternehmens Royal Dutch Shell, vertreten sowie militärische, politische, diplomatische und wissenschaftliche Akteure aus Kanada, Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Italien, der Türkei, Spanien, Polen, Lettland und Griechenland. „Die Allianz“, so Madeleine Albright bei der Vorstellung des Berichtes, müsse „in dieser Zeit der Unberechenbarkeit des 21. Jahrhunderts wendig und flexibel sein“.


Weiterhin Krieg ohne UN-Mandat

Inzwischen sickern die ersten Informationen an die Öffentlichkeit, was in dem unter Verschluss stehenden Dokument wohl stehen wird. Der Entwurf des Strategischen Konzeptes ist diesmal deutlich kürzer gefasst, als dies die bisherigen Strategiepapiere waren: Es sind nur zwölf layoutete Seiten. Das hat den Vorteil, dass sich das neue Strategische Konzept damit auf die Kernaufgaben der Nato beschränkt. Allerdings wird damit keine Analyse der globalen Sicherheitslage oder eine Bedrohungsanalyse vorgelegt.

An der bisherigen Praxis seit 1999, als Nato gegebenenfalls auch ohne UN-Mandat militärisch zu agieren und sich damit selbst für Militärinterventionen zu mandatieren, wird explizit festgehalten. Immer noch wird der Begriff der „kollektiven Verteidigung“ zentral genannt, mit benannt wird aber auch „globale Interessensdurchsetzung“. Der von der Europäischen Union kommende Ansatz einer so genannten „vernetzten Sicherheit“, damit insbesondere die zivilmilitärische Zusammenarbeit, also die enge Verbindung ziviler, polizeilicher und militärischer Akteure, wird erstmals als ein typischer Ansatz der Nato benannt.

Von den anderen weltpolitischen Akteuren wird explizit Russland eine widersprüchliche Rolle zugeordnet. Einerseits soll Russland stärker eingebunden werden mit dem Ziel der Bildung eines „einheitlichen Sicherheitsraums“, andererseits werden auch Gefahren aus dieser Region benannt. Neu und für die deutsche und EU-Politik von zentraler Bedeutung ist, dass die EU als Akteur aufsteigt - vom Akteur im Rahmen der Nato („within the alliance“) nun zu einem eigenständigen „strategischer Partner“. Hintergrund dabei ist, dass die EU als Institution mit dem Inkrafttreten des Lissabonvertrages auch ein Militärbündnis geworden ist. Die Nato bestätigt durch die Aufwertung diese Lesart.


Schlüsselelement Raketenabwehr

Das so genannte Raketenabwehrprogramm („Missile Defence“) wird als Schlüsselelement „core element“ zukünftiger Nato-Aktivitäten im neuen strategischen Konzept beschrieben. In Lissabon soll beschlossen werden, dass das US-Raketensystem Teil eines umfassenderen Nato-Raketensystems werden soll. Eine Zustimmung der deutschen Bundesregierung, die es offiziell bisher nicht gibt, wird hier ausdrücklich erwartet.

Grundsätzlich lässt die Nato die Tür offen für neue Nato-Mitglieder („open door policy“). Allerdings ist bemerkenswert, dabei aber im Trend, dass das Ansinnen auf Nato-Mitgliedschaft von Georgien und der Ukraine eher zurückhaltend erwähnt wird; es heißt lediglich, das „Anliegen“ müsse „berücksichtigt“ werden.

Im Vorfeld gab es umfangreiche Presseberichte, dass ab sofort auch Cyberattacken als militärische Angriffe nach Artikel 5 des Nato-Vertrages zu werten seien. Im Strategischen Konzept wird diese Idee konkret benannt, aber nicht speziell ausgeführt. Es handelt sich hier eher um einen „Fisch“, der „der begierigen Presse hingeworfen“ wird, um die entscheidenden Änderungen nicht im Blickpunkt zu haben. Dass auch die Bedrohung von Energieversorgung als Artikel-5-Fall eingestuft wird, hat da schon sehr viel mehr Sprengstoff im wörtlichen Sinne in sich.

Beide neuen Bedrohungsszenarien (Angriffe aus dem Cyber-Space oder auf Energieversorgungsleitungen als Artikel-5-Fälle) sind aus rechtlicher Sicht interessant, sollten sie Teil des Konzepts werden. Ihre Aufnahme muss als eine Vertragsänderung der Nato gewertet werden. Vertragsänderungen des Nato-Vertrages sind aber nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nach einer Klage der Linksfraktion gegen das vorherige Strategische Konzept der Nato an eine Zustimmung des Bundestages gebunden.

Ebenfalls ein Punkt für die öffentliche Debatte ist die in einem strategischen Konzept der Nato neue Zielbestimmung nach einer Welt ohne Atomwaffen. Dies knüpft an die Vision des US-Präsidenten Barack Obama, der für das Gerede von einer atomwaffenfreien Welt ja schon den Friedensnobelpreis bekommen hatte. Eine konkrete Abrüstungsagenda z.B. für Atomwaffen sucht man aber im Nato-Strategiepapier vergeblich.

Im Gegenteil: Die Nato hält nach wie vor an der Stationierung und dem (Erst-) Einsatz von Atomwaffen fest. Genauso bleibt es bei der nuklearen Teilhabe Deutschlands. Dies wird zwar wohl nicht mehr explizit erwähnt, bleibt aber bestehen. Die 160 bis 200 taktischen US-Atombomben in Europa, darunter im rheinland-pfälzischen Büchel, stehen also innerhalb der Nato nicht zur Debatte.

Die Nato-Staaten USA, Frankreich und Großbritannien können auf dieser Grundlage munter weiter ihre Atomwaffen (entgegen dem Atomwaffensperrvertrag) modernisieren. Der Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen meint dazu: „Aber solange es Atomwaffen gibt, bleibt die Nato eine nukleare Allianz, und die Abschreckung bleibt ein zentrales Element in unserer Strategie.“

Ein Zusammenhang zwischen der Befürwortung des Nato-Raketensystems mit der langfristigen Ersetzung der Atomwaffen - wie von einigen, so z.B. der deutschen Bundesregierung, gewünscht - wird es im Strategischen Konzept wohl nicht geben. Der Nato-Generalsekretär meint dazu: „Der Raketenschirm ist kein Ersatz für nukleare Abschreckung.“ Konventionelle Abrüstung - jenseits des praktisch irrelevanten KSE-Vertrages - ist ebenfalls im Strategischen Konzept der Nato nicht vorgesehen.


Weitere Aufrüstung

Zusammengefasst heißt das: Die Nato wird noch gefährlicher. Das weltweite Kriegs- und Interventionsbündnis rüstet weiter auf. Atomwaffen und ihr Ersteinsatz sind nach wie vor Teil der Strategie der Nato.

Im konventionellen Bereich wird es einerseits zu Schließungen von einigen Nato-Einrichtungen kommen, hauptsächlich solchen, die nicht mehr gebraucht werden, und andererseits wird es zu einer Verlagerung der Nato-Truppen noch mehr auf Auslandseinsätze wie Afghanistan und dort zu mehr Kampforientierung kommen.


Gegenaktionen

Weltweit hatte sich mit den Gegenaktivitäten zum Nato-Gipfel 2009 in Straßburg/Kehl und Baden-Baden das internationale Netzwerk „No to War - No to Nato“ gegründet - dieses bereitet nun zusammen mit portugiesischen Gruppen umfangreiche Gegenaktivitäten zum Nato-Gipfel vor.

Getrennt „marschieren“ die Anti-Kriegs- und die Friedensorganisationen in Portugal gegen den Nato-Gipfel. Einerseits wurde ein portugalweites Anti-Nato-Bündnis PAGAN gegründet, andererseits organisiert auch der eher traditionelle portugiesische Friedensrat (CPPC) Gegenaktivitäten, zum Beispiel mit einer Massendemonstration am Samstag, 20. November, in Lissabon gegen den Nato-Gipfel.

Vom 15. November bis zum Ende des Gipfels am 21. November werden überall in Portugal mit Schwerpunkt Lissabon vielfältige Aktivitäten gegen die Nato stattfinden. Am Freitag, 19.11., und Sonntag, 21.11., wird es einen alternativen Gegengipfel geben, der mit einer „International Anti-War Assembly“ enden soll.

In Deutschland sollen in der Zeit des Nato-Gipfels und davor in größeren Städten Veranstaltungen und dann Übertragungen der Gegenaktivitäten in Portugal stattfinden. Ziel ist es, zu einer Delegitimierung des Kriegsführungsbündnisses Nato beizutragen. Die Nato bringt keinen Frieden, sie bringt Krieg und muss aufgelöst werden!

Tobias Pflüger ist DFG-VK-Mitglied und war bis letztes Jahr Mitglied im internationalen Rat der War Resisters´ International und Europaparlamentsabgeordneter.

Mehr Informationen: http://www.no-to-nato.org

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