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Eine europäische CIA27.09.2010

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BRÜSSEL/BERLIN (Eigener Bericht) - Unter Mitwirkung der deutschen Auslandsspionage treibt Brüssel den Aufbau eines EU-Geheimdienstes voran. Die neue Behörde, die zum 1. Dezember in den Europäischen Auswärtigen Dienst eingegliedert werden soll, entsteht durch Erweiterung einer seit 1999 bestehenden EU-Institution, des Joint Situation Centre (SitCen). Das SitCen entzieht sich jeglicher parlamentarischen Kontrolle und unterhält eine Geheimdienstzelle, der unter anderem der deutsche Bundesnachrichtendienst (BND) angehört. Es wurde gegründet, um die EU von den US-Geheimdiensten unabhängig zu machen und größere Handlungsspielräume gegenüber Washington zu erlangen. Gegenwärtig besitzt es noch keinerlei operative Kompetenzen - ein Zustand, dem Experten keine lange Dauer beimessen. Kritiker warnen schon jetzt vor einer "europäischen CIA".


Geheimdienstzelle

Kern des im Aufbau befindlichen EU-Geheimdienstes ist das gegenwärtig beim Europäischen Rat in Brüssel angesiedelte Joint Situation Centre (SitCen). Die Institution, um deren parlamentarische Kontrolle sich das Europaparlament bisher vergebens bemüht, versorgt den Rat mit außenpolitisch bedeutsamen Informationen und verfügt zu diesem Zweck über zur Zeit ungefähr 110 Mitarbeiter. Mittelpunkt des SitCen ist eine Gruppe von Geheimagenten, die von zwölf alten sowie fünf neuen EU-Staaten entsandt werden, darunter Deutschland. Leiter dieser Geheimdienstzelle, in der bereits jetzt als geheim klassifizierte Dokumente der einzelnen Spionageapparate ausgetauscht werden, ist noch bis zum Februar 2011 ein Franzose. Zusätzlich verfügt das SitCen über eine rund um die Uhr arbeitende Abteilung, die öffentlich zugängliche Quellen auswertet, darunter neben gewöhnlichen Nachrichtenmedien etwa auch kommerzielle Satellitenbilder.[1]


Umfassende Quellen

Zum 1. Dezember soll das SitCen nun in den Europäischen Auswärtigen Dienst eingegliedert werden. Gegenwärtig ist Brüssel mit der Auswahl des künftigen Leiters befasst. Kommissarisch hat derzeit der Franzose Patrice Bergamini den Vorsitz inne. Außer Bergaminis Kandidatur liegen unter anderem eine deutsche und eine österreichische Bewerbung vor. Außerdem soll das SitCen deutlich vergrößert werden. So ist geplant, ihm den Crisis Room der EU-Kommission anzugliedern, der zur Auswertung öffentlich zugänglicher Informationsquellen über ausgefeilte Technologie verfügt. Die sogenannte Watch Keeping Capability der EU könnte ebenfalls im erweiterten SitCen aufgehen.[2] Sie umfasst Personal aus den Polizeien und Streitkräften der EU-Mitgliedstaaten und sammelt vor allem Informationen aus sämtlichen Polizei- und Militärinterventionen der EU. Aktuell verzeichnet Brüssel 14 laufende "Operationen" auf drei Kontinenten. Im SitCen werden außerdem die Berichte gesammelt, die die künftigen "Botschaften" der EU in die Brüsseler Zentrale schicken. Schließlich erhält SitCen umfassenden Zugang zu den Spionagesatelliten der einzelnen europäischen Staaten, darunter neben der deutschen SAR-Lupe die französischen Helios-Satelliten und das italienische System Cosmo-SkyMed.


EU-Militärpolitik

Der Aufbau eines EU-Geheimdienstes ist bereits seit Anfang der 1990er Jahre im Gespräch. Zuerst plädierten insbesondere Pariser Politiker für die Einrichtung eines gemeinsamen Spionageapparats. Mitte der 1990er Jahre erreichte die Debatte die Bundesrepublik. "Im Zuge der Entwicklung einer Sicherheits- und Verteidigungspolitik braucht Europa einen gemeinsamen Nachrichtendienst, der mit seinen neu zu strukturierenden Kapazitäten eine höhere Leistungsfähigkeit aufweisen soll" [3], hieß es 1996 in der offiziösen Zeitschrift Internationale Politik; dies machten die "zunehmenden Streitkräfteeinsätze" erforderlich, die "oft in wenig vertrauter Umgebung" stattfänden. Zwar sollten die Staaten ihre nationalen Dienste nicht aufgeben, sich aber - auch wegen der immer komplexeren und teureren Spionagetechnologie - parallel in geeigneter Form zusammenschließen.


Gegen die USA

Von Beginn an spielte die Konkurrenz zu den Vereinigten Staaten dabei eine herausragende Rolle. Wie das Fachblatt Internationale Politik festhielt, bestimme "der Zugriff auf nachrichtendienstliche Kapazität (...) die Einflußnahme auf die internationale Ordnung mit". Umso schwerer wiege daher die Abhängigkeit von den Spionagediensten der USA, die dringend durchbrochen werden müsse - um eine von Washington unabhängige EU-Außenpolitik zu forcieren. Proteste aus den Vereinigten Staaten suchte die Bonner Regierung damals durch wohlfeile Bekenntnisse zur transatlantischen Kooperation zu mildern: "In diesem Sinne", hieß es in der Internationalen Politik, habe Kanzler Helmut Kohl "bei den deutsch-französischen Konsultationen im Dezember 1995 hervorgehoben, daß die deutsch-französischen Beobachtungssatelliten HELIOS-2 und HORUS auch den USA zugute kommen sollen".[4] Die Bekenntnisse halfen zunächst wenig: Noch 2001 musste Berlin nach ernsthaften Protesten aus Washington den als SitCen-Chef vorgesehenen Top-Diplomaten Christoph Heusgen zurückziehen. Ihn ersetzte der als US-freundlich geltende Brite William Shapcott.[5]


Die Gründung des SitCen

Einen ersten Schritt in Richtung auf den Aufbau eines eigenen Geheimdienstes unternahm die EU kurz nach dem Überfall auf Jugoslawien - beim Europäischen Rat in Köln im Juni 1999. Basierend auf Analysen etwa des Institut d'Études de Sécurité der WEU (unter deutscher Beteiligung verfasst) [6], unterstellte der damalige EU-Chefaußenpolitiker Javier Solana das bis zu diesem Zeitpunkt bei der WEU angesiedelte Joint Situation Centre (SitCen) der EU. Im Jahr 2002 wurde, im Kontext des sogenannten Anti-Terror-Krieges, die bis dahin recht belanglose Tätigkeit des SitCen aufgewertet. Bereits damals war neben der Auslandsspionage aus Großbritannien, Frankreich, Italien, Spanien, den Niederlanden und Schweden auch der Bundesnachrichtendienst (BND) involviert. Das SitCen, das schrittweise weiter aufgewertet wurde, ergänzte damit die schon längst bestehende informelle Zusammenarbeit der europäischen Geheimdienste. Seit dem 1. Februar 2005 verfügt es zusätzlich über eine "Anti-Terror-Einheit", die sich mit "Bedrohungen" innerhalb der EU befasst und ihr Informationsmaterial von den europäischen Inlandsgeheimdiensten bezieht.[7]


Nur die logische Folge

Das SitCen beschränkt sich bisher und wohl auch in unmittelbarer Zukunft auf die Sammlung und Auswertung bereits vorliegender Informationen; es verfügt über keinerlei operative Elemente für die Gewinnung eigener Erkenntnisse oder gar für verdeckte Operationen. Zudem wird das SitCen gegenwärtig noch durch Rivalitäten zwischen den nationalen Geheimdiensten gebremst, die nicht bereit sind, ihre exklusiven Erkenntnisse über das Ausmaß des informell schon lange bestehenden Austauschs mit ihren jeweiligen Partnerdiensten hinaus preiszugeben. Trotzdem gehen Experten davon aus, dass die Institution sich im Rahmen des Europäischen Auswärtigen Dienstes recht rasch besondere Kompetenzen aneignen kann. "In ein, zwei Jahren", erklärt der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok (CDU), werde "die Abhängigkeit von nationalen Informationen abnehmen".[8] Kritiker von der britischen Organisation Open Europe warnen schon jetzt vor einer "europäischen CIA". Der absehbare Ausbau des SitCen zu einem regulären europäischen Geheimdienst ist dabei lediglich die Konsequenz des systematischen deutsch-europäischen Strebens nach machtvoller Einflussnahme in globalem Maßstab, durchgesetzt durch eine mit Spionage fundierte und zum Rückgriff auf Gewalt bereite Außen- und Militärpolitik.

[1] Competition heating up for EU intelligence chief job; euobserver.com 14.09.2010
[2] EU diplomats to benefit from new intelligence hub; euobserver.com 22.02.2010
[3], [4] Klaus Becher: Ein Nachrichtendienst für Europa; Internationale Politik 1/1996
[5] Jelle van Buuren: Secret Truth. The EU Joint Situation Centre, Eurowatch 2009
[6] Institut d'Études de Sécurité: Towards a European Intelligence Policy, Paris 1998
[7] Jelle van Buuren: Secret Truth. The EU Joint Situation Centre, Eurowatch 2009
[8] Europäischer CIA; WirtschaftsWoche 20.09.2010

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