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Jürgen Grässlin: 11.04.2010

Mercedes-Bild

Rüstungsgegner Jürgen Grässlin über heuchlerische Politiker, Amok laufende Prinzen und Deutschlands tödlichstes Unternehmen

Deutschland hat seine Rüstungsexporte in fünf Jahren verdoppelt. Die Meldung aus dem März hinterließ zwar bei vielen ein ungutes Gefühl, aber nur wenige brachte sie so in Rage wie Jürgen Grässlin. Er ist der Frontmann der Friedensbewegten, Deutschlands bekanntester Rüstungsgegner und Daimlers schärfster Widersacher. So schreiben die Zeitungen über Grässlin. Mit ihm sprach Marc Chmielewski.

Herr Grässlin, Sie führen seit vielen Jahren einen Feldzug gegen die Rüstungsindustrie. Warum?

Rüstungsexporte sind wegen ihrer riesigen Opferzahlen der schlimmste Auswuchs deutscher Außen- und Wirtschaftspolitik. Wir laden massiv Schuld auf uns. Das lässt sich in einer Gesellschaft mit unseren Werten nicht rechtfertigen.

Warum konzentrieren Sie sich auf Pistolen und Gewehre?

Durchschnittlich 19 von 20 Menschen, die in Kriegen und Bürgerkriegen durch Waffengewalt sterben, kommen durch Kleinwaffen ums Leben. In diesem Segment ist die deutsche Firma Heckler & Koch führend. Sie ist Deutschlands tödlichstes Unternehmen.

Haben Sie keine Angst vor einem Prozess? Immerhin sind Sie schon wegen harmloserer Aussagen verklagt worden. Ferdinand Piëch wollte Ihnen verbieten zu behaupten, er wolle seinen Großvater überholen und berühmter als dieser werden.

Ich nehme es nicht ernst, wenn Piëch wegen einer solchen Mutmaßung prozessiert – das empfinde ich als lächerlich. Bei Heckler & Koch geht es um belegbare Tatsachen. Die Firma ist der größte Hersteller und Exporteur von Gewehren und Pistolen in Europa. Vorsichtig berechnet hat die Firma seit den 50er Jahren mehr als 1,5 Millionen Tote zu verantworten – statistisch betrachtet ist das ein Toter alle 14 Minuten. Über die Jahre bedeutet das rund 30 Tote pro Arbeitsplatz. Auch der von Daimler mitkontrollierte Rüstungskonzern EADS beliefert Länder, die Menschenrechte systematisch verletzen. Profit steht für Rüstungsfirmen über Menschenrechten.

Die Konzerne werden das anders sehen. Wie begründen Sie ihr Tun?

Im Herbst hatten die "Kritischen Aktionäre Daimler" ein Gespräch mit Bodo Uebber, dem Finanzchef von Daimler und Aufsichtsratsvorsitzenden der EADS. Uebber hat lange über Ethik und Moral im Konzern sinniert und die wohlklingenden Richtlinien, mit denen Daimler sich schmückt. Ich habe ihn mit Menschenrechtsberichten über Malaysia, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate konfrontiert – alles Länder, in die EADS hemmungslos Waffen liefert.

Was hat Uebber darauf gesagt?

Sein entscheidendes Argument: Diese Exporte sind legal.

Damit hat er ja Recht.

Aber sie sind moralisch und ethisch zutiefst verwerflich.

Warum sind sie dann erlaubt?

Etwa 98 Prozent aller deutschen Waffenexporte sind legal, genehmigt vom Bundessicherheitsrat – der besteht aus Kanzlerin Merkel, Außenminister Westerwelle und acht weiteren Ministern. Die politischen Grundsätze der Bundesregierung verbieten derlei Waffenexporte. Nur sind sie leider nicht rechtsverbindlich, sondern pure Absichtserklärungen. Und diese bricht die Bundesregierung permanent. Man gaukelt der Bevölkerung vor: Wir exportieren keine Waffen an Unrechtsregime. Aber wir tun es. Ganz legal.

Wenn das so ist, kann man von den Konzernen nicht erwarten, dass sie auf dieses Geschäft zu verzichten.

Formal stimmt das. Aber: Viele Firmen verletzen damit ihre im Unternehmensstatut festgeschriebenen ethischen Grundsätze. Damit sollte man sie nicht durchkommen lassen. Dieses Vorgehen ist verlogen, die Öffentlichkeit wird getäuscht.

Wie soll sich das ändern?

Der entscheidende Hebel zur Veränderung ist die Politik. Sobald sie weniger Rüstungsexporte genehmigt, werden auch weniger deutsche Waffen in alle Welt verkauft.

Wie wollen sie das erreichen?

Um Druck zu erzeugen, beginnt die Friedens- und Menschenrechtsbewegung demnächst eine Kampagne. Wir geben den Opfern deutscher Waffen eine Stimme, dafür laden wir sie nach Deutschland ein: Menschen, die Munitionsteile von Heckler & Koch in sich tragen, Menschen ohne Arme oder Beine, aus Somalia, der Türkei und anderen Ländern. Die verantwortlichen Politiker und Unternehmen werden öffentlich gemacht, so wollen wir ihre Ächtung erreichen.

Wird sich dadurch etwas ändern?

Ja, es hat sich schon viel getan. Vor 25 Jahren waren wir Rüstungsgegner wenige. Inzwischen sind wir eine Bewegung. Heute sagt niemand mehr öffentlich: Toll, die Rüstungsindustrie sichert Arbeitsplätze. Es ist schwieriger geworden, Waffenexporte zu rechtfertigen.

Wie wollen Sie Waffenfirmen überzeugen, keine Waffen mehr zu bauen? Sollen die einfach zumachen?

Nein, sie sollen Vernünftiges produzieren. Die IG Metall muss Pläne entwickeln für die Umstellung auf zivile Produktion. Sinnvoll wäre, wenn sich etwa Heckler & Koch auf Medizintechnik spezialisiert. Die Firma könnte Prothesen und Rollstühle herstellen und so ihren Opfern helfen. Stellen Sie sich vor: In zehn oder zwanzig Jahren wäre Heckler & Koch Marktführer auf diesem Gebiet!

Das glauben Sie doch nicht im Ernst!

Fairerweise muss man sagen, dass das nicht ohne die Politik geht. Die Bundesregierung müsste einen Konversionsfonds gründen, um Unternehmen zu unterstützen, die von Waffen auf eine ethisch vertretbare Produktion umstellen wollen. Das ist eine Vision, klar, aber es wäre möglich – wenn man nur wollte.

Nehmen wir an, das klappt alles, Deutschland exportiert in 20 Jahren keine Waffen mehr. Glauben Sie, dadurch würden weniger Menschen erschossen? Andere Waffenlieferanten würden doch gern einspringen.

Dieses Argument höre ich immer wieder, aber es ist falsch. Ein Beispiel: Heckler & Koch wollte 65 000 G36-Gewehre in das Bürgerkriegsland Nepal exportieren. Mit einer der Testwaffen hat Kronprinz Dipendra im Jahr 2001 mehrere Mitglieder der Königsfamilie erschossen. Danach hat die Bundesregierung den Deal verboten. Kein anderes Land der Welt hat daraufhin die 65 000 Gewehre geliefert, nicht einmal Russland oder China. Dies zeigt doch: Es hat ein globales Umdenken eingesetzt.

Aber das ist doch ein Einzelfall.

Ein anderes Beispiel: Wer vor 25 Jahren forderte, die Produktion von Landminen zu verbieten, wurde als Spinner abgetan. Heute gibt es das Ottawa-Abkommen, das mehr als 100 Staaten unterschrieben haben. Jetzt ist es an der Zeit, ein Verbot der Kleinwaffenproduktion ernsthaft anzugehen.



Lebensdaten:

Jürgen Grässlin (52)
lebt in Freiburg. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Im Hauptberuf ist er Realschullehrer. Seit Beginn der 80er Jahre engagiert Grässlin sich in der Friedensbewegung.

Sein Lieblingsfeind ist die Firma Heckler & Koch, Europas größte Kleinwaffenschmiede. Das Unternehmen hat seinen Sitz in Oberndorf bei Stuttgart.

Acht Sachbücher hat Grässlin verfasst. Seine Hauptthemen sind die deutsche Waffen- und Automobilindustrie. Besonders erfolgreich war seine Biographie über den früheren Daimler-Chef Jürgen Schrempp, die auch ins Japanische und Chinesische übersetzt wurde.

Prozess mit Piëch. Im Jahr 2000 veröffentlichte Grässlin eine Biographie über den damaligen VW-Vorstandschef Ferdinand Piëch. Der hat für das Werk „Techniker der Macht“ jegliche Zusammenarbeit verweigert und ging gegen einzelne Formulierungen gerichtlich vor.

Tausendsassa. Grässlin ist Mitglied in einem halben Dutzend Friedensinitiativen, zwei Gewerkschaften und der globalisierungskritischen Gruppe Attac, zudem ist er Sprecher der „Kritischen Aktionäre Daimler“.

Krieg in Zahlen. Grässlin ist Mitbegründer und Vorsitzender des Rüstungsinformations-Büros. Dort befindet sich das nach eigenen Angaben mittlerweile größte Archiv der Friedensbewegung zu Rüstungsproduktion und -exporten.

Quelle: http://www.newsclick.de/index.jsp/menuid/2182/artid/12048967

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Steigerung der Rüstungsexporte, mangelnde Transparenz und Verfahren gegen Schreiber
Interview mit Jürgen Grässlin auf Deutschlandradio Kultur vom 19.01.2010 hier

Mehr Informationen: http://www.juergengraesslin.com

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