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Gefährliche Gewässer21.10.2008

Korvette Braunschweig - Die Neue Kriegsschiffgeneration der Deutschen Marine - Foto: M.Schädel

Das Europäische Parlament legitimiert heute den Einsatz von Kriegsschiffen gegen Piraten vor Somalias Küste. Selbstverständlich werden humanitäre Gründe für den militärischen Schutz wichtiger Handelswege vorgeschoben

Agenturmeldung vom 21. Oktober 2008: »Das Hörstück ›Die abenteuerliche Welt der Piraten‹ erhält in diesem Jahr den mit 5000 Euro dotierten Deutschen Kinderhörspielpreis. Bearbeiter und Regisseur Volker Präkelt male mit seinem Stück ›ein buntes Bild der abenteuerlichen Piratenzeit‹ und nehme seine Hörer mit auf eine spannende Verfolgungsjagd über die sieben Weltmeere.« Dies ist die Verklärung der historischen Piraterie. Doch die Realität der Piraterie war damals und ist heute viel brutaler, brutaler heute vor allem von seiten des Westens.

Allmählich wird es eng vor der Küste Somalias. Dort tummeln sich mittlerweile Kriegsschiffe zahlreicher Einzelstaaten. Vor Ort ist z.B. neuerdings die NATO, schon länger vor Ort ist die »Task Force 150«, ein multinationaler Militäreinsatz unter wechselnder Führung verschiedener Staaten, darunter Deutschland und Pakistan, im Rahmen des US-geführten »Krieges gegen den Terror« (Operation Enduring Freedom, OEF).

Nun hat die Europäische Union am 19. September die sogenannte NAVCO-Mission im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) beschlossen. Damit sollen die bereits vor Ort befindlichen unterschiedlichen Einsatzverbände aus EU-Staaten militärisch koordiniert werden. Das Ganze stützt sich auf die Resolution 1816 des UN-Sicherheitsrates. Diese Resolution vom 2. Juni 2008 stellt, so der Völkerrechtler Norman ­Paech, ein absolutes Novum dar, denn sie »autorisiert erstmals (…) alle willigen Staaten auch innerhalb der somalischen Hoheitsgewässer (also innerhalb der Zwölf-Meilen-Zone) (…) aktiv Jagd auf Piraten zu machen«. Der NAVCO-Einsatz ist vor allem deshalb brisant, weil er die Vorstufe für den ersten maritimen EU-Militäreinsatz überhaupt darstellt, der Ende des Jahres vor der Küste Somalias (und womöglich auch Kenias) beginnen soll. Am heutigen Donnerstag will das Europäische Parlament einen Resolutionsentwurf verabschieden, mit dem der Einsatz politisch unterstützt werden soll.


Staatliche Souveränität ausgehebelt

Nachdem die Union Islamischer Gerichte (UIC) die Kontrolle in Somalia übernommen hatte und in dem Land in der Folge erstmals seit langem so etwas wie Stabilität herrschte, ging die Zahl der Piratenüberfälle substantiell zurück. Der jetzige Anstieg hatte sich erst eingestellt, nachdem die UIC Ende Dezember 2006 nach einer von den USA tatkräftig unterstützen Invasion Äthiopiens, an der mindestens 15000 Soldaten beteiligt waren, durch eine im kenianischen Exil aus dem Angebot somalischer Warlords zusammengeklaubte Übergangsregierung (TFG) ersetzt wurde. Genau diese Übergangsregierung ist jedoch nicht in der Lage, dem Problem Piraterie in den eigenen Hoheitsgewässern Herr zu werden, so entsandten mittlerweile zahlreiche Staaten Militärschiffe zum Schutz ihrer wirtschaftlich-politischen Interessen in die Region.

Während das geltende Seerechtsabkommen (Artikel 105) jedoch jederzeit die Bekämpfung von Piraten auf hoher See gestattet, gilt dies nicht für die Zwölf-Meilen-Zone in Küstennähe, wo diese Aufgabe zum Souveränitätsbereich des jeweiligen Landes gehört. Da die ins Visier geratenen Piraten aber vorwiegend im somalischen Hoheitsgewässer agieren (bzw. sich dorthin zurückziehen), benötigten die interessierten Staaten eine Rechtsgrundlage, um aktiv gegen sie vorgehen zu dürfen. Hierfür verabschiedete der UN-Sicherheitsrat auf Initiative der Vereinigten Staaten und Frankreichs am 2. Juni 2008 die Resolution 1816, auf die sich auch die EU-NAVCO-Mission beruft.

Bei der Piratenjagd muß die somalische Regierung zwar dem zuvor zustimmen, da sie sich aber ohne westliche Unterstützung kaum an der Macht halten könnte, stellt sie kein Hindernis dar. Im Wortlaut wurde in Artikel 7 beschlossen, »daß die Staaten (…) a) in die Hoheitsgewässer Somalias einlaufen dürfen, um seeräuberische Handlungen und bewaffnete Raubüberfälle auf See in einer Weise zu bekämpfen, die den nach dem einschlägigen Völkerrecht auf Hoher See zulässigen Maßnahmen gegen Seeräuberei entspricht; b) innerhalb der Hoheitsgewässer Somalias alle notwendigen Maßnahmen zur Bekämpfung seeräuberischer Handlungen und bewaffneter Raubüberfälle in einer Weise anwenden dürfen, die den nach dem einschlägigen Völkerrecht auf Hoher See zulässigen Maßnahmen gegen Seeräuberei entspricht«.

Damit rief der UN-Sicherheitsrat nicht nur erstmals unter Kapitel VII zur gewaltsamen Bekämpfung der Piraterie auf, sondern er beendete faktisch Somalias Souveränität über seine Zwölf-Meilen-Zone. Auf Grundlage dieser Resolution können fremde Staaten innerhalb des somalischen Hoheitsgewässers nahezu schalten und walten wie sie wollen: »Also: Boote und Schiffe sowie deren Besatzung können nach frischer Tat, aber auch bei Verdacht, daß es sich um Piraten handelt, bis an den Strand und in die Häfen Somalias verfolgt, bekämpft und aufgebracht werden, egal, wo sie zuerst angetroffen worden sind.«[1] Interessanterweise bezieht sich die Resolution 1816 nicht nur auf die Küstengewässer, sondern auch auf den »Luftraum vor der Küste Somalias« und hebelt damit die Souveränität des Landes auch in diesem Bereich aus.

Die ursprünglichen Planungen gingen sogar noch viel weiter, wie eine Meldung der BBC vom 2.Juni 2008 offenbart: »Unser Korrespondent in Frankreich gibt an, daß Frankreich ursprünglich den Antrag zur Berechtigung einer Bekämpfung der Piraterie auf andere Gebiete wie Westafrika, ausdehnen wollte.« Auch im Unterausschuß »Sicherheit und Verteidigung« (SEDE) des Europäischen Parlaments wurde diesbezüglich Klartext geredet. So betonte der konservative griechische Abgeordnete Giorgos Dimitrakopoulos (EPP-ED) bei der Sitzung am 15. Oktober, der nun beschlossene Einsatz vor Somalia sei für die EU lediglich der Ausgangspunkt für einen weiter gefaßten Plan zum Schutz (bzw. der Kontrolle) anderer wichtiger Schiffahrtsregionen.

Dies scheiterte jedoch am Widerstand Chinas, Vietnams und Libyens, die einen solchen Blankoscheck für die ganze Welt, »über die sieben Weltmeere«, nicht unterzeichnen wollten. Deshalb wird in der UN-Resolution 1816 explizit bekräftigt, hierdurch würde kein neues Völkergewohnheitsrecht geschaffen. Am 9. Oktober verabschiedete der Sicherheitsrat eine weitere Resolution (1838) zum Thema, in der dieser Aspekt nochmals unmißverständlich unterstrichen wurde. Dort wird »bekräftigt, daß diese Resolution ausschließlich auf die Situation in Somalia Anwendung findet und die Rechte, Pflichten oder Verantwortlichkeiten der Mitgliedstaaten nach dem Völkerrecht, einschließlich der Rechte oder Pflichten nach dem Seerechtsübereinkommen, in bezug auf jedwede Situation unberührt läßt, und unterstreicht insbesondere, daß diese Resolution nicht so anzusehen ist, als werde dadurch Völkergewohnheitsrecht geschaffen.«

Dennoch steht zu befürchten, daß die UN-Resolution 1816 künftig als Präzedenzfall herangezogen wird, wie die der Bundesregierung zuarbeitende »Stiftung Wissenschaft und Politik« erläutert: »Zwar wird in der UN-Resolution explizit erklärt, daß damit kein neues völkerrechtliches Gewohnheitsrecht geschaffen wird und die Souveränität, territoriale Integrität sowie politische Unabhängigkeit und Einheit Somalias nicht ausgehöhlt werden sollen. Aber für die internationale Debatte über Sicherheit auf See wird damit ein völlig neues Instrument geschaffen. Es könnte sich in Zukunft erweisen, daß sich dieses Instrument auch in anderen Gefahrenlagen anwenden läßt« (SWP-Aktuell 56/Juni 2008, S. 3).


NAVCO I und NAVCO II

Am 19. September verabschiedete die Europäische Union die »Gemeinsamen Aktion/Joint Action 2008/749«. Sie ist eine »militärische Koordinierungsmaßnahme zur Unterstützung der Resolu­tion 1816 (2008) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. (…) Durch die Einrichtung einer Koordinierungszelle in Brüssel (sollen) die Tätigkeiten der Mitgliedstaaten unterstützt werden, die militärische Mittel im Einsatzgebiet einsetzen, damit diese leichter verfügbar und operativ einsetzbar sind.« Konkret heißt das, daß alle Kriegsschiffe der verschiedenen EU-Mitgliedstaaten, die vor Ort sind, damit koordiniert werden sollen. Damit sind sowohl die Kriegsschiffe gemeint, die EU-Staaten zur Piratenbekämpfung vor Ort geschickt haben, als auch jene, die schon länger im Rahmen der OEF-Mission »Task Force 150« vor Ort operieren. Hinzu kommt noch die Koordinierung mit den Schiffen des »Ständigen Maritimen Einsatzsverbandes 2« der NATO, von dem Teile seit kurzem ebenfalls in die Region beordert wurden.

Die Leitung des NAVCO-Einsatzes übernimmt der Spanier Andrès Beijo Claúr, die Kosten in Höhe von zunächst 60000 Euro werden vollständig über den »Athena-Mechanismus« bezahlt. Das Koordinationszentrum soll dabei laut der »Gemeinsamen Aktion« nicht nur als »Ansprechpartner insbesondere für die Reederverbände« fungieren, sondern auch für »die im Rahmen der Operation ›Dauerhafte Freiheit‹ agierende Seestreitkraft ›Combined Task Force 150‹«. Eine enge Abstimmung mit dem US-geführten »Krieg gegen den Terror« ist demzufolge also gegeben, obwohl der heute zur Abstimmung stehende Resolutionsentwurf des Europäischen Parlaments »den Rat auffordert, klar zwischen dem künftigen ESVP-Mandat und den Anti-Piraterie-Maßnahmen einzelner EU-Mitglieder im Rahmen der ›Operation Dauerhafte Freiheit‹ zu unterscheiden«.[2] Sogar eine Zusammenarbeit mit der »Operation Iraqi Freedom« (OIF), also mit dem völkerrechtswidrigen Irak-Krieg, ist möglich.

Die Europäische Union läßt keine Zweifel daran aufkommen, daß die militärische Koordinierung im Rahmen von NAVCO nur einen Anfang darstellen soll: »Parallel dazu wird der Rat weiter daran arbeiten, eine maritime EU-Militäroperation zu starten.«[3] Geplant ist mit einem neu zu beschließenden Mandat die Entsendung von fünf bis sechs Schiffen nebst Hubschraubern, das Hauptquartier soll in Northwood (Großbritannien) liegen, das Kommando wird der britische Vizeadmiral Philip Jones übernehmen. Bis zu neun Länder wollen sich an dem Einsatz beteiligen, u. a. auch Deutschland, das bereits mindestens eine Fregatte zugesagt hat. Ein Erkundungsteam ist Presseberichten zufolge schon vor Ort, auch verbal stimmt man sich bereits auf den Einsatz ein: »Wir wollen Ende dieses Jahres oder Anfang 2009 beginnen, nachhaltig dieser Piraterie den Garaus zu machen«, wird ein hoher EU-Beamter von der Nachrichtenagentur ddp am 21.September zitiert.

Brisant ist dabei, daß »Verteidigungs«minister Franz Josef Jung (CDU) von einem »europäischen Einsatz vor der Küste Somalias und Kenias« spricht. Von Kenia ist aber in der UN-Resolution überhaupt nicht die Rede. Höchstwahrscheinlich beabsichtigen BRD und EU aber dennoch, auch innerhalb der Zwölf-Meilen-Hoheitszone Kenias auf Piratenjagd zu gehen, so auch interne Planungen in Brüssel.

In diesem Zusammenhang stellt sich darüber hinaus die Frage, weshalb die Europäische Union krampfhaft einen eigenen Einsatzverband vor die somalische Küste beordern will, wo doch dort ohnehin mit der Task Force 150 und den NATO-Schiffen Hochbetrieb herrscht. Bei der SEDE-Sitzung am 15. Oktober nannte dies der britische konservative EU-Abgeordnete Geoffrey van Orden (EPP-ED) »militärischen Unfug« und einen »verzweifelten Versuch« der französischen Ratspräsidentschaft, »während ihrer Amtszeit die EU-Flagge über einer weiteren Militärmission hissen zu können«. Betrachtet man sich die Lage jedoch genauer, so wird durchaus deutlich, weshalb sich die Europäische Union zu diesem Schritt entschieden hat.


Öl und freier Welthandel

Zwar wird der NAVCO-Einsatz gerne mit der Notwendigkeit zum Schutz von Nahrungsmittellieferungen begründet, allerdings geht es viel mehr um deutlich handfestere Interessen. Nachdem sich Überfälle von Piraten vor der Küste Somalias seit 2007 häufen, sind es nicht zuletzt die deutschen Reeder, die auf ein bewaffnetes Eingreifen drängen, schließlich ist Deutschland nicht nur Exportnation Nummer eins, sondern auch der Staat mit der größten Container- und der drittgrößten Handelsflotte der Welt.

So ruft Hans-Heinrich Nöll, Hauptgeschäftsführer des Verbands Deutscher Reeder, nach militärischem Begleitschutz: »Wir erwarten von der Politik, daß sie der Marine ein klares Mandat gibt. Es ist eine Frage hier unserer deutschen Zuständigkeiten, ob wir die Marine ermächtigen, auch dabei einzugreifen – was andere längst dürfen.« Damit spielt Nöll auf die Tatsache an, daß das Militär in Deutschland für einen derartigen Einsatz überhaupt nicht zuständig ist, denn die Verbrechensbekämpfung fällt – eigentlich – in den Zuständigkeitsbereich der Bundespolizei.

Ganz offen wird die Interessenskonstellation von Militärs beschrieben. In einem Artikel zum NAVCO-Einsatz, der im MarineForum erschien, heißt es: »Auch die Europäische Kommission und das EU-Parlament haben mittlerweile entdeckt, daß Piraterie die für Europa so lebenswichtigen Warenströme bedroht – durch erhöhte Sicherheitsausgaben der Reedereien und steigende Versicherungsprämien steigen letztlich die Frachtraten und damit auch die Verbraucherpreise für importierte Güter sowie die Verkaufspreise für europäische Exportgüter in den Empfängerstaaten. Deutschland hat ein vitales Interesse an der Sicherheit der global bedeutsamen Seestraßen – vom Import und Export hängen Wohlergehen der Bürger und innere Stabilität des Landes ab. Schon deshalb – und erst recht, weil wir Bestandteil der Staatengemeinschaft sind – steht die Bundesrepublik in der Pflicht, auch gegen Piraten so vorzugehen, wie es ihnen gebührt. Sie sind Verbrecher und müssen bestraft und im wahrsten Sinne des Wortes aus dem (See-)Verkehr gezogen werden.«[4] Selbst im offiziellen NAVCO-Mandat des EU-Rates wird festgehalten, man müsse gegen die Piraten vorgehen, da diese eine Gefährdung für »die Sicherheit der der gewerblichen Seeschiffahrt dienenden Schiffahrtswege und die internationale Schiffahrt darstellen«.

Auch die Fischereiverbände machen Druck auf ein militärisches Eingreifen. So berichtet das MarineForum, die französischen und spanischen Schiffe seien nicht zuletzt zum Schutz ihrer Fangflotten vor die somalische Küste beordert worden. Um was es aber bei dem NAVCO-Einsatz wirklich geht, wird auch deutlich gesagt: die Kontrolle der Energieversorgung (»Energiesicherheit«), insbesondere des wichtigen Nadelöhrs am Golf von Aden, an dem Somalia liegt und den elf Prozent der per Schiff verbrachten weltweiten Öllieferungen passieren. Ganz offen sprach der CDU-Europaparlamentarier Karl von Wogau während der Sitzung des Unterausschusses »Sicherheit und Verteidigung« davon, bei NAVCO gehe es um den »Schutz der Handelswege« und der Kommandeur des Einsatzes, Andrès Beijo Claúr, unterstrich wie selbstverständlich die »Interessen der EU am Golf von Aden«.

Der EU-Ratsbeschluß zu NAVCO wurde im übrigen im Transport- und Tourismusausschuß (TRAN) diskutiert ohne Einbeziehung des für militärische Fragen zuständigen Unterausschusses »Sicherheit und Verteidigung« (SEDE). Im heute zur Abstimmung stehenden Resolutionsentwurf wird deshalb gefordert, künftig besser unterrichtet zu werden. Viel interessanter ist jedoch, daß dort im gleichen Atemzug der geostrategische Kontext des Einsatzes offen angesprochen wird. Der Entwurf »fordert die EU-Kommission dazu auf, das Europäischen Parlament über jede Entscheidung zur Finanzierung von Projekten zu informieren, die im Zusammenhang mit kritischen Seewegen am Horn von Afrika, der Straße von Bab Al-Mandab, und dem Golf von Aden stehen.«[5]


Fischer wurden Piraten

Zu einem nicht geringen Teil ist das Piraterieproblem vor der somalischen Küste hausgemacht und zwar nicht nur, weil die USA maßgeblich beteiligt waren, die einzige stabile somalische Regierung seit vielen Jahren zu beseitigen. Denn die Frage der Piraterie ist ganz generell nicht von der sozialen Situation in Somalia und dem Agieren westlicher Akteure zu trennen. Dabei ist es geradezu zynisch, daß sich die Fischfangflotten lange Jahre ausgerechnet genau die Schwäche des somalischen Staates zunutze machten, die sie nun beklagen. »Seit dem Sturz der Regierung 1991 wurden die Hoheitsgewässer Somalias kaum mehr überwacht. Seither betreiben ausländische Schiffe in größerem Umfang illegalen Fischfang vor Somalia und überfischten die Gewässer. Die Piraten sind zum Teil frühere Fischer, die ihr Tun damit rechtfertigen, daß die ausländischen Schiffe durch den Fischfang in den Hoheitsgewässern Somalias ihren Lebensunterhalt gefährden. Diese Piraten wollten also zunächst die Fanggründe vor Eindringlingen schützen, manche gingen allerdings dazu über, auch Frachtschiffe oder Passagierschiffe zu überfallen.«[6]

Greenpeace beschrieb das Problem in ihrem Magazin bereits lange vor den jetzigen Überlegungen zu einem bewaffneten Eingreifen. Sie zitierten dort unter anderem stellvertretend für die Sichtweise vieler somalischer »Piraten« einen 33jährigen Familienvater: »›Wir haben es satt, daß uns alle Welt als Piraten beschimpft‹, ärgert sich der Vater von vier Kindern: ›Was sollen wir denn tun, wenn man uns alles nimmt, was wir zum Leben brauchen?‹« (greenpeace magazin 1/2007). Nun mag man es vielleicht nicht begrüßen, wenn Menschen mit einer solchen Argumentation zu den Waffen greifen, um aber zu wirklichen Lösungen zu gelangen, muß man die Konfliktursachen zumindest kennen. Maßnahmen, die die strukturellen Ursachen der Piraterie angingen, wären sicher wesentlich erfolgversprechender, als der Versuch, das Problem militärisch zu bekämpfen. Meine entsprechenden heutigen Anträge für die Linksfraktion GUE/NGL dürften aber abgelehnt werden. Das hieße nämlich auch, daß zuallererst die Fischereifangflotten zurückbeordert werden müßten und ein vernünftiges Reintegrationsprogramm für die verarmten Fischer gestartet werden müßte. Dies kommt aber leider aufgrund der ökonomischen Interessen für die EU-Staaten nicht in Frage. Vor allem dient die Pirateriebekämpfung der EU als willkommener Anlaß, sich als maritimer Global Player zu etablieren und ihre militärische Präsenz in einer strategisch und ökonomisch wichtigen Weltregion deutlich auszubauen.


Anmerkungen
[1] Michael Stehr: VNSR-Resolution 1816 zur Bekämpfung von Piraterie und die deutsche Rechtslage, MarineForum, Stand: 21. September 2008
[2] Paolo Costa: Motion for a Resolution, B6-0000/2008
[3] European Union military coordination of action against piracy in Somalia (EU NAVCO), Fact Sheet, 19.9.2008
[4] Michael Stehr: Le Ponant – Folgen und Folgerungen, in: MarineForum 6/2008
[5] Paolo Costa: Motion for a Resolution 2008, a. a. O.
[6] de.wikipedia.org/wiki/Piraterie_in_Somalia

Quelle:
IMI-Analyse 2008/036
von Tobias Pflüger, aktives Mitglied der DFG-VK, Vorstand der Informationsstelle Militarisierung Tübingen und des Mitglied des Europäischen Parlamentes

Mehr Informationen: http://www.imi-online.de

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