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Hamburger Abendblatt: Im Minenfeld der Seele18.01.2008

Hamburger Abendblatt - www.abendblatt.de

1996 wurde Hauptmann Fritsche in Bosnien verletzt - der Fuss ist verheilt, das Trauma dauert an
Wie viele andere Kameraden auch führte Fritsche einsam seinen Kampf gegen Erinnerung und Selbstzweifel. Bis er im Bundeswehr-Krankenhaus Hamburg endlich Hilfe fand.


Von Miriam Opresnik

Hamburg - Irgendwann, als die Zeit gekommen war, holte Hauptmann Karl-Heinz Fritsche (51) seine Reisetasche aus dem Keller und packte. Ein paar Unterhosen, Socken, T-Shirts. Er wusste nicht, wie lange er fortbleiben würde. Von zu Hause, von seiner Frau Biene, seinem Sohn. Persönliche Gegenstände nahm er kaum mit. Nur ein Foto seines Enkelkindes. Und die Hoffnung, gesund zurückzukehren.

Zwei Auslandseinsätze hatte der Bundeswehrsoldat hinter sich, in Kroation/Bosnien und Bosnien-Herzegowina. Jetzt zog er wieder in den Kampf. Den Kampf gegen sich selbst. Gegen die Vergangenheit, die Erinnerung.

"Die Erinnerung ist mein größter Feind", sagt er. So unvorbereitet wie ihm in Bosnien eine Mine den Fuß zerfetzte, so unvorbereitet kommt heute die Erinnerung. Manchmal reicht ein Geräusch oder ein Geruch, und Karl-Heinz Fritsche ist wieder in dem kleinen Dorf in Bosnien, in Visoko. Dann sieht er sich durch die Luft fliegen, am Boden liegen, bluten. Und er sieht, was er nicht sehen will: dass ihm ein Teil des Fußes fehlt.

Als also die Zeit gekommen war, packte Fritsche die Reisetasche in seinen Renault Clio und fuhr nach Hamburg. Lesserstraße 180 tippte er in das Navigationssystem ein. Zur Abteilung VI B fragte er sich durch. Die Zeit war gekommen, um sich helfen zu lassen.



Es ist das Jahr 2007. Das Bundeskabinett beschließt die Verlängerung von vier Auslandseinsätzen. Der Bau des Ehrenmals für gefallene Bundeswehrsoldaten wird wegen fehlender Baugenehmigung verschoben. In der Bevölkerung nimmt die Zustimmung für Auslandseinsätze laut einer Studie immer mehr ab. Nur noch 29 Prozent befürworten diese. Mehr als 50 Prozent stehen ihnen kritisch gegenüber. Fritsche ist einer von ihnen.

Und er ist einer von jährlich 100 Soldaten, die sich im Bundeswehrkrankenhaus Hamburg wegen sogenannter "einsatzbedingter psychischer Störungen" behandeln lassen - in der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychotraumatologie. FU 6 nennt Fritsche die Station, sein neues Zuhause - Fachuntersuchung 6. Den richtigen Namen verwendet er nie. "Der hat mich immer abgeschreckt. Bei Psychiatrie denkt man an Bekloppte und ans Irrenhaus", sagt er. In der Welt "da draußen" möge es ja vielleicht akzeptiert werden, wenn man eine Therapie macht - in dem Kosmos Bundeswehr oftmals aber nicht. "Hier geht es darum, seinen Mann zu stehen, stark zu sein, heldenhaft." Da sei kein Platz für jemanden, der mit der Erinnerung nicht fertig wird, der traumatisiert ist.

So wie Fritsche, so wie Hunderte Soldaten. Vielleicht sogar Tausende. Genaue Zahlen gibt es nicht. Nur Statistiken über Auslandseinsätze, getötete und verletzte Soldaten. Und über Soldaten mit PTBS - Posttraumatischer Belastungsstörung. 700 Bundeswehrsoldaten mussten deswegen bereits behandelt werden. Doch die Dunkelziffer, so Oberstarzt Dr. Karl-Heinz Biesold, sei vermutlich viel höher. "Studien belegen, dass selbst nach Friedenseinsätzen drei bis acht Prozent der Soldaten unter psychischen Problemen leiden", sagt Biesold, Leiter der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychotraumatologie. Demnach müssten mehrere Tausend betroffen sein. "Befragungen zeigen, dass nur 25 Prozent der Betroffenen zum Psychiater gehen", so Biesold. Der Grund: "Aus Angst und Scham scheuen viele den Gang zum Arzt oder Psychiater. Oftmals werden die Probleme eher verdrängt, als sie sich und anderen einzugestehen", weiß Biesold aus jahrelanger Erfahrung. Seit Mitte der 90er-Jahre ist das Bundeswehrkrankenhaus auf die Behandlung von traumatisierten Soldaten spezialisiert - als führende Einrichtung in Deutschland. Und während die ersten traumatisierten Soldaten in Hamburg aufgenommen wurden, bekam Oberleutnant Karl-Heinz Fritsche den Einsatzbefehl für Kroatien. Sein Auftrag: Kampfmittel aufnehmen, beseitigen und die Truppe vor Gefahr schützen.
Wie viele andere Kameraden auch führte Fritsche einsam seinen Kampf gegen Erinnerung und Selbstzweifel. Bis er im Bundeswehr-Krankenhaus Hamburg endlich Hilfe fand.

Es ist das Jahr 1995. Das Dayton-Friedensabkommen beendet den Krieg in Bosnien und Herzegowina und Kroatien. Der Bundestag billigt einen Bosnien-Einsatz der Bundeswehr. Und mehr junge Männer als je zuvor verweigern den Kriegsdienst.

Irgendwann, als die Zeit gekommen war, holte Fritsche den Seesack und die Blechkiste aus dem Keller und packte. So wie im Verpackungsplan der Bundeswehr vorgesehen. Tarnkleidung, eine Uniform, Unterwäsche. Persönliche Dinge nahm er kaum mit. Nur ein Foto seiner Frau. "Es passiert schon nichts", sagt er ihr zum Abschied. "Es passiert schon nichts", sagt er sich in den kommenden Tagen, Wochen und Monaten, als er das Gelände in Visoko nach Minen absucht. "Mit Feuereifer", wie er sagt. "Ich habe das nicht für mein Vaterland gemacht, sondern für meine Kumpel." Er wird gebraucht, damit den anderen nichts passiert.

Jeweils 100 Quadratmeter rechts und links einer Brücke sollen geräumt werden. Später wird Fritsche sagen, dass er bis zu diesem Einsatz nur in der Sandkiste gespielt hat und alle Vorbereitungen Kinderkram waren. Denn darauf kann man nicht vorbereitet werden. Darauf, mit eiskalten Fingern eine Minensuchnadel in den gefrorenen Boden zu stecken - genau im 45 Grad-Winkel, damit der Druck nicht zu groß ist. Und darauf, dass man einen Fehler macht. "Zu meiner Entschuldigung muss ich sagen . . .", fängt Fritsche an, dann unterbricht er sich selbst. Nein, es gebe nichts zu entschuldigen, er habe keinen Fehler gemacht, damals an jenem 15. März 1996. Es sei ein schöner Tag gewesen, die Bedingungen optimal. Zentimeter um Zentimeter tastet sich Fritsche vor. Seine Bewegungen sind vorsichtig, seine Schritte überlegt. Dann tritt er auf den Stein - und die Mine darunter. Es ist eine PMA-3. Unauffällig wie ein Stein, klein wie ein Eishockeypuck. Doch die Wirkung von 34 Gramm Sprengstoff ist fatal.

Fritsche weiß heute nicht mehr, ob er zuerst den Knall hört oder zuerst die Schmerzen spürt. Er weiß nur noch, wie er instinktiv aus dem verminten Gelände rauskriecht, damit seine Kameraden ihn nicht bergen müssen. Dann weiß er nichts mehr. Fritsche bekommt eine Spritze, ein Hubschrauber wird angefordert. Zeit und Raum verschwimmen, Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen. Die Erleichterung, überlebt zu haben, vermischt sich mit der Angst vor der Zukunft. Drei Tage später wird Fritsche ausgeflogen, nach Deutschland, nach Hause. Seine Sachen schicken ihm die Kameraden hinterher.

Zwei Monate ist er im Krankenhaus, dreimal wird er operiert. Er hat zwei Drittel seines Vorfußes verloren. Und er hat seine Selbstachtung verloren. "Ich habe mich wie ein Versager gefühlt. Schließlich hatte ich versagt", sagt Fritsche. Er ist der erste Soldat, der beim Minenräumen im Auslandseinsatz verletzt wurde. Aber er wird nicht der letzte sein.

Er ist ein gefallener Held. Gefallen, gefangen. Gefangen in Vorwürfen, Schuldgefühlen. Daran ändert auch der Empfang bei Bundespräsident Roman Herzog nichts, der ihm für seinen Einsatz dankt. Und auch nicht das Ehrenkreuz der Bundeswehr in Silber. Nur bei der Verleihung trägt er das Abzeichen, danach nimmt er es ab, legt es ins Regal und holt es nie mehr heraus. "Mit Speck fängt man Mäuse, mit Blech Soldaten", sagt er. Fritsche will sich nicht fangen lassen.
Wie viele andere Kameraden auch führte Fritsche einsam seinen Kampf gegen Erinnerung und Selbstzweifel. Bis er im Bundeswehr-Krankenhaus Hamburg endlich Hilfe fand.

Im Krankenhaus hatte er ein "Ersatzstück" für seinen linken Schuh bekommen, seelischen Beistand hat er nicht bekommen. "So was wie psychologische Betreuung für Soldaten gab es damals doch noch gar nicht", sagt Fritsche und macht eine wegwerfende Handbewegung. Er spricht nicht gerne von der Zeit danach. Von dem Gefühl, seine Frau enttäuscht zu haben, sich selbst enttäuscht zu haben. Von den Albträumen, der Erinnerung. Und dem großen Zusammenbruch, eineinhalb Jahr später.

Es ist das Jahr 1997. Deutschland unterzeichnet das Ottawa-Übereinkommen zur Ächtung von Personenminen. Und Fritsche macht einen Lehrgang für Kampfmittelbeseitiger. Als ein Briefbombenattentat mit einer Puppe simuliert wird, reißt ihn die Erinnerung mit der Wucht einer Mine von den Füßen. Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen. Aus der Puppe wird ein Mensch, aus dem Menschen wird Fritsche. "Plötzlich habe ich mich selbst dort liegen sehen." Die Zeit war gekommen, um sich helfen zu lassen.

Der Truppenarzt empfiehlt ihm, sich aus den Gelben Seiten einen Psychologen zu suchen. Doch nach dem ersten Gespräch geht Fritsche nicht mehr hin. Jemand, der nie im Auslandseinsatz war, könne das nicht verstehen, ein Zivilist erst recht nicht. Erst Monate später erfährt Fritsche durch einen Kameraden von der Abteilung für Traumatisierte Soldaten in Hamburg, wenig später wird er dort aufgenommen. Das erste Mal. Doch es wird nicht das letzte Mal sein.

"Rund ein Viertel der behandelten Soldaten sind mehrmals bei uns", sagt Oberstarzt Biesold, der selbst viermal an Auslandseinsätzen teilgenommen hat. Denn viele scheinennach dem ersten Aufenthalt geheilt, funktionieren lediglich - bis wieder etwas passiert und die Erinnerung kommt. Manchmal geht das ein paar Wochen oder Monate gut, manchmal sogar Jahre. So wie bei Fritsche. Sechs Wochen war er nach dem großen Zusammenbruch zur Behandlung in Hamburg, dann ging es ihm wieder besser. Gut. So gut, dass er entlassen wird, wieder zu arbeiten anfängt.

Es ist das Jahr 1998. Die Lage im Kosovo eskaliert. Der Uno-Sicherheitsrat verlängert das Mandat der Friedenstruppe für Bosnien/Herzegowina. Und Fritsche wird zum Hauptmann befördert.

Er ist jetzt für die Schießsicherheit auf Übungsplätzen zuständig. Er arbeitet in Düsseldorf, wohnt in Wuppertal - und denkt ständig daran, wieder ins Ausland zu gehen.

Und dann irgendwann, Jahre später, war die Zeit gekommen. Fritsche holte seinen Seesack aus dem Keller und packte. Er wusste nicht, wie lange er bleiben würde. Er wusste nur, dass er es den anderen beweisen würde. Den anderen und sich selbst. Dass er kein Versager ist. Die Zeit war gekommen, um zu einem neuen Auslandseinsatz aufzubrechen. Fast zehn Jahre waren seit dem Unfall vergangen. Lang genug, um sich der Erinnerung zu stellen. Und zu besiegen.

Es ist das Jahr 2005. Die Große Koalition wird gegründet und Angela Merkel zur ersten Bundeskanzlerin Deutschlands gewählt. Der Fortbestand des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Unterstützung der Überwachsungsmission AMIS in Dafur wird beschlossen. Karl-Heinz Fritsche wird in Sarajewo eingesetzt - und erlebt dort alles noch einmal. Gegenwart und Vergangenheit verschmelzen. Was damals war, ist heute, was längst vergessen schien, ist wieder da. Die Erinnerung.
Wie viele andere Kameraden auch führte Fritsche einsam seinen Kampf gegen Erinnerung und Selbstzweifel. Bis er im Bundeswehr-Krankenhaus Hamburg endlich Hilfe fand.

Fritsche befindet sich im Kampf. Nicht mit dem Feind, sondern mit der Vergangenheit. Zwölf Wochen dauert der Kampf. Dann Anfang 2006 ist der Einsatz zu Ende. Fritsche ist am Ende. Diesmal muss er nicht warten, bis er es merkt. Diesmal weiß er sofort, dass die Zeit gekommen ist, sich helfen zu lassen. Er bekommt eine achtwöchige Kur verordnet. Doch helfen kann ihm dort niemand.

Also kam irgendwann die Zeit, um die Reisetasche zu packen und wieder nach Hamburg zu fahren. Es ist das Jahr 2007. Diesmal bleibt Fritsche Monate. Die Zeit hat an Bedeutung verloren. Die Zeit ist stehen geblieben. So wie die Uhr in seinem Wohnzimmer. 9.33 Uhr ist es dort. Immer. Jeden Tag, jede Woche, jeden Monat. Fritsche hat die Zeiger angehalten. Auf die Zeit eingestellt, als er auf die Mine getreten ist. Es ist kein normales Ziffernblatt. Die Uhr ist eine umgebaute Mine. Eine PMA-3. "Es ist gut, etwas zur Erinnerung zu haben", sagt Fritsche. Und es sei gut, keine Angst mehr davor zu haben. Die Vergangenheit ist abgeschlossen, die Zukunft offen. Ende Januar soll er entlassen werden. Doch irgendwann, das weiß er, wird er wieder nach Hamburg kommen. Wenn die Zeit gekommen ist.

erschienen am 18. Januar 2008

Mehr Informationen: http://www.abendblatt.de/daten/2008/01/18/838300.html

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