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DFG-VK-Bundessprecher Bernd Baier, Jürgen Grässlin, Dr. Wolfgang Menzel und Thomas Carl Schwoerer zur Lage in Syrien07.03.2012

zerbrochenes Gewehr - http://www.dfg-vk.de

Fast ein Jahr nach Beginn des Aufstandes gegen die Assad-Dynastie haben Waffen die Worte ersetzt: Statt mit Schlagstöcken arbeitet die Regierung nun mit Raketenwerfern und Granaten, die Opposition organisiert neben Demonstrationen gezielte Anschläge. Die Lage nähert sich immer schneller einem Bürgerkrieg. Wir warnen davor und vor einer militärischen Intervention von außen, und wir sind zutiefst besorgt über die immer größere Zahl von Opfern der Gewalt im Lande. Über 7000 Syrer sind seit März 2011 getötet worden, über Zehntausend wurden festgenommen.
Baschar al Assad hat die schlimmsten Formen der Folter abgeschafft, ohne die systematischen Menschenrechtsverletzungen aufzuhalten, und kämpft seit seinem Antritt gegen die veralteten Strukturen seines Landes. Er hat sich aber nicht durchgesetzt. Seine letzte Chance besteht darin, das Land durch Wahlen zu reformieren. Es gibt unterschiedliche Einschätzungen darüber, ob er bereit ist, über einen Machtverzicht zu verhandeln oder auch nur ernsthafte Zugeständnisse zu machen. Wir fordern einen Runden Tisch aller Oppositionsgruppen und der Regierung und dass Konflikte unter Wahrung der Menschenrechte ausgetragen werden.

Eine militärische Intervention würde die Lage hingegen noch schlimmer machen. Sie könnte Assad und die bewaffnete Opposition zu verstärktem Töten von Menschen veranlassen. Sie würde den Konflikt nicht schnell beenden, schon weil die Opposition gespalten ist und die syrischen Streitkräfte zu stark sind. Zudem ist Syrien ein Pulverfass in einer instabilen Region, die mit Europa direkt benachbart ist. Ein Bürgerkrieg könnte auf andere Länder überspringen. Die Bedingungen für eine erfolgreiche Transformation zu einer demokratischen Gesellschaft würden sich verschlechtern. Eine Eskalation mit Beteiligung der Nato könnte zu einer offenen Konfrontation zwischen den atombewaffneten Großmächten führen. Die Militarisierung des Konflikts darf nicht durch Waffenexporte weiter gefördert werden.
Eine Flugverbotszone wäre keine Lösung, weil die syrische Luftwaffe nicht geflogen ist. „Korridore für humanitäre Hilfe“ nahe den Grenzen sind ebenfalls keine Lösung: Sie könnten Zivilisten schützen, aber sie müssten bald verteidigt werden gegen Regierungstruppen. Da die oppositionelle Freie Syrische Armee den Regierungstruppen deutlich unterlegen ist, würden solche Korridore eine militärische Invervention nach sich ziehen, mit den genannten Gefahren.
 

Die Opposition

Nach allem, was wir wissen, dominiert die Muslimbruderschaft im Syrischen Nationalrat. Entsprechend bleiben säkulare und linksgerichtete Gruppen sowie Kurden diesem fern. Sein Rivale ist der Syrische Nationale Koordinierungsausschuss, der Militäroperationen ablehnt und stattdessen Reformen fordert, um eine Demokratisierung einzuleiten.
Der Nationalrat spricht sich gegen Verhandlungen mit der Regierung aus und hat gefordert, dass die Opposition auf den Einsatz von Gewalt verzichtet. Er hat sich allerdings verbündet mit der Freien Syrischen Armee, die aus bewaffneten Überlaufern aus den Regierungstruppen besteht.Die Opposition ist gespalten zwischen Anhängern des bewaffneten und des gewaltfreien Widerstands. Wir sind Anhänger gewaltloser demokratischer Aufbrüche wie in Tunesien und Ägypten. Auch ein Teil der syrischen Oppositionellen hält an Pazifismus und zivilem Ungehorsam fest als erfolgreichstes Mittel, das nach dem Fall des Regimes noch nützlich sein kann. Diese Oppositionellen arbeiten mit Graffiti gegen das Regime, Pamphleten, Revolutionsliedern und –gedichten und verstecken Lautsprecher an öffentlichen Plätzen, um dort regimekritische Lieder zu übertragen. Wir sind dafür, diesem Teil der syrischen Opposition mit Satellitentelefonen, Laptops, Stromgeneratoren, Digitalkameras und Medizin zu helfen, international sichtbarer zu werden und sich besser zu vernetzen. Nichtregierungsorganisationen zur zivilen Konfliktbearbeitung leisten dazu wichtige Beiträge. Wir fordern die Aufnahme und den Abschiebestopp von Deserteuren und anderen Flüchtlingen in Deutschland.
Wirtschaftssanktionen treffen den Privatsektor und die Mittelklasse und schwächen damit genau die Kräfte, auf denen die Hoffnungen für einen gesellschaftlichen Wandel ruhen. Hingegen begrüßen wir zielgerichtete Kontensperren gegen die führenden Mitglieder der Regierung, um diese an den Verhandlungstisch zu bringen.


 Das Ausland
Iran unterstützt die Assad-Regierung mit Waffen, und die Türkei die Freie Syrische Armee als bewaffneten Teil der Opposition. Letztere erhält Verstärkung durch Söldner aus  dem Irak. Al Kaida verübt Terroranschläge. Die USA versuchen, die gegenwärtige Situation auszunutzen und einen Mittleren Osten zu schaffen, in dem sie keine Gegner mehr haben, wie z.B. Assad. Sie versuchen, das Ergebnis des Irakkriegs zu korrigieren. Denn der Krieg hat Iran und Syrien gestärkt.
Wir fordern die Bundeskanzlerin und die Nato auf, den heimlichen Transfer westlicher Waffen nach Syrien umgehend zu unterbinden und die Verständigung mit allen Beteiligten zu suchen, darunter mit Russland.
Russland liefert Waffen an die Assad-Regierung; das syrische Tartus ist die einzige russische Marinebasis am Mittelmeer.
Wir fordern die russische Regierung auf, umgehend einen konsequent friedensorientierten  Resolutionsentwurf in den Weltsicherheitsrat einzubringen, der die weitere Bewaffnung sowohl der Assad-Regierung als auch der syrischen Opposition ablehnt.
Die Arabische Liga hat ihre Beobachtermission zuletzt abgebrochen wegen der schwerwiegenden Verschlechterung der Situation und der fortgesetzten Gewalt. Die Assad-Regierung habe sich offensichtlich für die militärische Option entschieden. Es gibt aber keine Alternative zur Deeskalation: Eine Fortsetzung und bessere Ausstattung einer Beobachtermission ist wichtig, denn internationale Beobachter können Schlimmeres verhindern.
Die Arabische Liga hatte zuvor „die fortgesetzte Tötung von Zivilisten“ verurteilt und den syrischen Staat aufgefordert, die Zivilbevölkerung zu schützen, Panzer und alle militärischen Fahrzeuge von den Straßen abzuziehen, die politischen Gefangenen freizulassen, den Dialog mit der Opposition zu beginnen und grundlegende Reformen einzuleiten. Das Regime hatte diese Forderungen akzeptiert, sie aber nicht durchgehend umgesetzt.
Wie im Jemen, soll nach dem Willen der Arabischen Liga eine Regierung der nationalen Einheit gebildet werden, die sich aus Mitgliedern des Regimes und der Opposition zusammensetzt. Zwei Monate nach der Regierungsbildung habe Assad zurückzutreten und die Amtsgeschäfte seinem Stellvertreter Farug al Sharaa zu übergeben.
Demgegenüber gibt es eine beachtliche Mehrheit in Syrien, die sagt, das eigentliche Problem sei nicht Assad. Sie macht einen Unterschied zwischen Assad und dem Regime und stellt fest, dass die Krise nicht allein damit ende, dass Assad geht.
Die Arabische Liga hat eine militärische Intervention der Nato klar abgelehnt, aber Friedenstruppen der Vereinten Nationen gefordert (die allerdings eine Feuerpause und das Einverständnis der syrischen Regierung voraussetzen; beide sind nicht gegeben) und beispiellose Wirtschaftssanktionen gegen Syrien beschlossen: die Aussetzung jeglichen Handels mit Ausnahme von Lebensmitteln, das Einfrieren der Guthaben ranghoher Regimevertreter, den Abzug arabischer Investitionen aus Syrien, ein Reiseverbot für syrische Regierungsvertreter in der arabischen Welt und ein Verbot von Transaktionen mit der syrischen Zentralbank. Saudi Arabien hat seine Hilfszahlungen an Syrien längst eingestellt, und das europäische Ölembargo trifft das Regime hart. Die Steuereinnahmen Syriens sind von 340 Milliarden im Jahr 2010 auf nur noch fünf Milliarden gesunken. Die Wirtschaft ist nahezu komplett gelähmt, die syrische Lira hat seit Beginn des Aufstands mehr als die Hälfte ihres Werts verloren.
Wir fordern die Arabische Liga auf, ihre Beobachtermission wieder aufzunehmen und umgehend alle Aktivitäten zu unterbinden, die die Gewalt in Syrien schüren.
Nach Einreiseverboten und Kontensperren gegen die führenden Vertreter des Regimes bereitet die EU weitere Sanktionen gegen die syrische Zentralbank sowie die Einstellung des kommerziellen Flugverkehrs vor.
Al Jazeera und Al Arabiya produzieren kampagnenartig Meldungen, immer aus Sicht der Opposition. Wir wenden uns gegen die einseitige und eskalationsfördernde Berichterstattung der westlichen Medien, die oft die Meldungen von Al Jazeera und Al Arabiya schlicht wiedergeben.

gez. Bernd Baier, Jürgen Grässlin, Dr. Wolfgang Menzel und Thomas Carl Schwoerer

Zum Domwnload PDF-Datei: Stellungnahme der DFG-VK-Bundessprecher Bernd Baier, Jürgen Grässlin, Dr. Wolfgang Menzel und Thomas Carl Schwoerer zur Lage in Syrien vom 02.03.2012


Mehr Informationen: http://www.syrien.dfg-vk.de

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