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Im Partisanenkrieg27.11.2009

www.german-foreign-policy.com

BERLIN/KABUL (Eigener Bericht http://www.german-foreign-policy.com) - Nach dem jüngsten Vertuschungsskandal im Bundesverteidigungsministerium fordern Militärkreise eine bessere Einstimmung der Öffentlichkeit auf zivile Kriegsopfer in Afghanistan. Dass der Luftangriff auf einen Tanklaster in Kunduz Zivilisten zu Tode gebracht habe, sei "von Anfang an klar" gewesen, erklärt ein Dozent an der Münchener Bundeswehr-Universität. Zivile Opfer lägen "im Wesen des Partisanenkriegs" begründet. Dies dürfe nicht verschleiert, sondern müsse "der Öffentlichkeit offen erklärt" werden, um Kritik und ähnlichen Skandalen nach künftigen Ziviltoten vorzubeugen. Welche Folgen der Versuch des Bundesverteidigungsministeriums, das offenkundige Kriegsverbrechen zu verschleiern, über den Rücktritt des Generalinspekteurs der Bundeswehr und eines Staatssekretärs hinaus hat, ist offen. Die Tatsache, dass das Ministerium einen einschlägig relevanten Bericht der Feldjäger vor den Justizbehörden verborgen habe, erfülle zumindest den Tatbestand der Strafvereitelung, ist im Hinblick auf den damaligen Minister Franz Josef Jung zu hören. Unabhängig davon will ein Rechtsanwalt am heutigen Freitag in Berlin Beweise vorlegen, denen zufolge sich die tatsächliche Zahl ziviler Opfer auf 178 beläuft. Er vertritt 78 Familien afghanischer Opfer.

Der Bericht der deutschen Feldjäger über das Massaker von Kunduz, dessen Inhalt gestern in Auszügen über die Presse der Öffentlichkeit bekannt wurde, geht nicht wesentlich über den bisherigen Kenntnisstand hinaus. So dokumentiert der Bericht zahlreiche zivile Verletzte, darunter Jugendliche, die kurz nach dem Massaker im Krankenhaus von Kunduz behandelt wurden; dort habe man auch Leichen von Kindern gesehen, die als Opfer des Luftschlags eingestuft wurden. Auch bestätigt der Bericht, dass die Aufklärungsbilder, die von US-Flugzeugen geliefert wurden, eine Unterscheidung von Zivilisten und Kombattanten nicht zuließen - ein hinlänglich bekannter Sachverhalt, der nicht nur beim Angriff auf den Tanklaster verheerende Folgen hatte. Schließlich bekräftigt das Dokument, dass der V-Mann der deutschen Militärs, der als Zeuge dafür genannt wird, dass sich angeblich nur Aufständische bei den Tanklastern aufhielten, keinen Sichtkontakt zu den Fahrzeugen hatte. Es sei "offensichtlich" gewesen, "dass der Bombenabwurf zu zahlreichen Toten und Verletzten führen wird bzw. geführt hat, ohne dass unmittelbar vor und nach dem Vorfall adäquat gehandelt wurde", heißt es in dem Feldjäger-Papier.[1]

Wegbegleiter
Wegen des offenkundigen Widerspruchs zwischen den Verlautbarungen des Bundesverteidigungsministeriums und den Tatsachen, die nach Auskunft des Feldjäger-Berichts dem Ministerium schon früh bekannt waren, sind am gestrigen Donnerstag zwei Militärs von ihrem Amt zurückgetreten, die den Umbau der Bundeswehr zur weltweit intervenierenden Kampftruppe über lange Jahre begleitet hatten. Wolfgang Schneiderhan war von 2000 bis 2002 als Leiter des Planungsstabes im Verteidigungsministerium tätig; während dieser Zeit wurde die Intervention der Bundeswehr in Afghanistan in die Wege geleitet. Vom 1. Juli 2002 an begleitete Schneiderhan den Afghanistan-Einsatz als Generalinspekteur der Bundeswehr. Oberstleutnant der Reserve Peter Wichert hatte den Posten des Staatssekretärs im Verteidigungsministerium bereits seit 1991 inne; in den frühen 1990er Jahren wirkte er an den Weichenstellungen für die "Transformation" der Bundeswehr mit. Im Jahr 2000 erstmals entlassen, kehrte er 2005 auf den Posten zurück, bis er ihn gestern erneut räumen musste. Schneiderhan und Wichert befanden sich kurz vor dem Ruhestand.

Rechtfertigen statt leugnen
Militärkreise werfen beiden sowie dem ehemaligen Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung vor, beim Umbau der Bundeswehr zur globalen Interventionsarmee nicht offensiv genug in der Öffentlichkeit für den Krieg geworben zu haben. Wie etwa Michael Wolffsohn, Professor an der Münchener Bundeswehr-Universität, urteilt, sei "das schlechte Image" der Streitkräfte auch dadurch zu erklären, "dass weder die deutsche Politik noch die Bundeswehrführung der deutschen Öffentlichkeit das Wesen des Partisanenkriegs erklärt hat". Im "Partisanenkrieg", wie er zur Zeit in Afghanistan geführt werde, seien jedoch tote Zivilisten praktisch nicht zu vermeiden, legt Wolffsohn nahe. So sei es zum Beispiel "von Anfang an klar" gewesen, "dass es zivile Opfer bei jenem Angriff" am 4. September bei Kunduz "auf die Taliban-Partisanen gegeben haben muss".[2] Der Bundeswehr-Professor meint in Berlin nun Tendenzen zu offensiverer PR-Tätigkeit für den "Partisanenkrieg" zu erkennen. Verteidigungsminister Guttenberg hatte kürzlich das Bombardement von Kunduz trotz der Ziviltoten für "angemessen" erklärt [3] - ein Hinweis auf die von Wolfssohn geforderte Strategie, tote Zivilisten nicht mehr zu leugnen, sondern sie zu rechtfertigen.

Nicht mehr zu leugnen
Welche unmittelbaren Folgen der Versuch des Verteidigungsministeriums, die Aufklärung des Massakers zu behindern und den Feldjäger-Bericht zu verbergen, über den Rücktritt des Bundeswehr-Generalinspekteurs und eines Staatssekretärs hinaus hat, ist noch offen. Gegen den ehemaligen Verteidigungsminister Franz Josef Jung ist bereits Anzeige wegen Strafvereitelung im Amt erstattet worden; Jung schützt vor, den Feldjäger-Bericht - immerhin einen Untersuchungsbericht der ihm damals unterstellten Militärpolizei zu einem der heikelsten Themen der letzten Monate - dem Inhalt nach überhaupt nicht zur Kenntnis genommen zu haben und auch keine Verantwortung dafür zu tragen, dass er der Justiz nicht zur Verfügung gestellt wurde. In Bedrängnis bringt der Bericht zudem die Generalbundesanwältin, die Ermittlungen aufzunehmen hat, sollte auch nur ein Anfangsverdacht auf ein Kriegsverbrechen vorliegen. Ein solcher ist im Falle des deutschen Obersts Georg Klein, der den Luftangriff angefordert hat, nicht mehr zu leugnen.

Nicht der letzte
Unabhängig davon will der Bremer Rechtsanwalt Karim Popal am heutigen Freitag in Berlin Beweise vorlegen, dass die Zahl der zivilen Opfer des Massakers sich sogar auf 178 beläuft - darunter rund 20 Verletzte und rund 20 Verschollene. Popal vertritt gemeinsam mit drei Kollegen 78 afghanische Familien, die Opfer beklagen. Er hat mehrfach in Kunduz recherchiert und dabei mit der UNO sowie mit afghanischen Menschenrechtsorganisationen kooperiert. Popal strebt zunächst eine außergerichtliche Einigung auf eine Entschädigung für die Familien an, gibt dem Verteidigungsministerium dafür jedoch nur noch bis Ende der nächsten Woche Zeit. Danach will er auf Schadensersatz klagen.[4] Zuletzt hatten Opfer der NATO-Attacke auf die jugoslawische Kleinstadt Varvarin vom 30. Mai 1999 gegen die deutsche Regierung geklagt - ohne Erfolg. Sollte Popal wegen des Massakers von Kunduz vor Gericht ziehen, wäre das der zweite größere Prozess wegen mutmaßlicher deutscher Kriegsverbrechen seit dem Neubeginn der deutschen Kriegstätigkeit in den 1990er Jahren - und aller Voraussicht nach nicht der letzte.
[1] Hat Minister Jung die Wahrheit verschwiegen?; Bild 26.11.2009
[2] "Die Bundeswehr muss Offenheit lernen"; Welt Online 26.11.2009
[3] Guttenberg nennt Luftangriff "angemessen"; netzeitung.de 06.11.2009
[4] In der Aufklärung; Tagesspiegel 27.11.2009

Quelle: http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/57680

Mehr Informationen: http://www.afghanistankampagne.de

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