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Frieden braucht einen bürgernahen Staat23.06.2009

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von JOCHEN HIPPLER

Der Krieg in Afghanistan ist militärisch nicht zu gewinnen. Er hat politische Wurzeln, und die seit 2003 dramatisch eskalierende Gewalt ist das dramatische Symptom einer politisch-gesellschaftlichen Krisensituation, nicht das eigentliche Problem. Die Verstärkung der ausländischen Truppen greift deshalb zu kurz - mehr Soldaten können günstigstenfalls Zeit für eine politische Lösung gewinnen, den Konflikt aber nicht lösen.

Im ungünstigen Fall können sie sogar zur Eskalation eines militärischen Gleichgewichtes führen. Ohne einen funktionierenden Grundansatz zur Überwindung der Kriegsursachen bleiben die militärischen Zwangsmittel hilflos und laufen ins Leere.

Inzwischen besteht ein weitgehender Konsens, dass die Konflikte in Afghanistan durch einen primär militärischen Ansatz nicht zu lösen sind. Alle Bundestagsparteien und die Bundeswehr würden dem zustimmen. Deshalb ist es erstaunlich, dass aus dieser richtigen Erkenntnis kaum die nötigen Schlüsse gezogen werden. Entweder konzentrieren sich die politischen Diskussionen fast ausschließlich auf die Frage des Bundeswehreinsatzes - etwa im Rahmen der periodischen Debatten um eine Verlängerung oder von Änderungen des Mandats der Bundeswehr.

Oder man unterstellt, dass eine Verbesserung der Infrastruktur und der Lebensbedingungen der Bevölkerung diese durch Entwicklungspolitik für die Regierung gewinnen und so zu einer Beendigung des Krieges führen könnten. Häufig wird auch vorgebracht, dass der Krieg in Afghanistan durch eine Verbindung der "zwei Säulen" von "Sicherheit" (ein Euphemismus für Militäreinsatz) und "Entwicklung" schließlich erfolgreich beendet werden könne.

Tatsächlich aber erweisen sich beide Wege meist als Sackgasse. Guerillakriege und Kriege in Failed States können kaum jemals beendet werden. Dies gilt auch in Afghanistan. Um die Ursachen dieser Unmöglichkeit zu verstehen, durch Soldaten und Entwicklungshelfer diesen Typus von Krieg zu gewinnen, sollte man sich über den Charakter von Aufstandskriegen klar werden. Ohne ein solches Verständnis bleiben die Chancen gering, solche Kriege dauerhaft zu beenden.

Klassische, konventionelle Kriege wurden und werden zwischen zentral geführten, bürokratisch organisierten Streitkräften geführt, entweder zwischen Staaten oder zwischen einer Regierung und ähnlich organisierten Streitkräften der Gegenseite. In dieser Art von Kriegen fällt die Entscheidung meist gewaltsam und aufgrund militärischer Überlegenheit. Bei solchen klassischen Kriegen fällt der Sieg in der Regel der Seite zu, dessen Militär über größere Mobilität und höhere Feuerkraft verfügt.

Der politische Charakter entscheidet über Sieg oder Niederlage. Letztere wiederum hängen von der Größe und Bewaffnung der Streitkräfte ab. Ein weiteres Element solcher Kriege besteht in der strategischen Bedeutung geografischer Faktoren, etwa der Eroberung gegnerischer Gebiete oder der Umgehung feindlicher Streitkräfte. Klassische Kriege sind von "Fronten" geprägt, die die gegnerischen Streitkräfte klar räumlich trennen.

Den Krieg in Afghanistan kann die internationale Gemeinschaft mit der bisherigen militärisch-zivilen Strategie nicht gewinnen, meinen die Forscher. Vielmehr müssen die USA, Deutschland und ihre Verbündeten dafür sorgen, dass ein Staat aufgebaut wird, mit dem sich Afghanen identifizieren können.

Kriege mit Aufstandscharakter oder in Failed States folgen grundlegend anderen Regeln. Hier spielen geografische Faktoren eine weit geringere Rolle, feste Fronten sind eine seltene Ausnahme und zu größeren Schlachten zwischen konventionellen und zentral kontrollierten Armeen kommt es kaum. Der wichtigste Grund liegt darin, dass einem staatlichen Militär eine weit schwächere Aufstandsbewegung oder Guerillatruppe gegenübersteht, die prinzipiell keine Chance auf einen militärischen Sieg hat - und deshalb in relativ kleinen Gruppen aus dem Hinterhalt angreift.

In einem solchen Kontext sind Aufständische kaum entscheidend und endgültig militärisch zu schlagen, weil sie "Entscheidungsschlachten" verweigern und nur dann kämpfen, wenn es aussichtsreich erscheint. Solche Untergrundkämpfer sind oft kaum von der Zivilbevölkerung zu unterscheiden oder operieren gar aus ihr heraus - was dazu führt, dass schwere Militärschläge (durch Luftangriffe oder Artillerie) oft Zivilisten treffen werden und so die Bevölkerung auf die Seite der Aufständischen treiben.

Der Kern des Problems liegt darin, dass in dieser Art von Krieg militärische Gewalt meist zweitrangig ist, da der politische Charakter über Sieg oder Niederlage entscheidet. Aufstandskriege sind zwar gewaltsam, aber die Gewalt ist mehr Symptom als das zugrundeliegende Problem. Tatsächlich handelt es sich um politische Auseinandersetzungen, die um die Durchsetzung politischer Ordnungsvorstellungen geführt werden. In deren Rahmen kann Gewalt eine wichtige Rolle spielen - aber nur als taktisches Mittel, selten führt sie eine strategische Entscheidung herbei. Letztlich gewinnt diejenige Seite, die die Loyalität der Bevölkerung gewinnt oder dieser zumindest als das kleinere Übel erscheint.

Eine Regierungsarmee braucht die Unterstützung der Bevölkerung, um Aufständische ausfindig machen, isolieren und erfolgreich bekämpfen zu können - was wichtigere Faktoren sind als die Größe der Armee oder ihr technologisches Niveau. Die Aufständischen brauchen die Bevölkerung, um ihre Rekrutierung und Versorgung sicherzustellen, um Informationen über Truppenbewegungen zu erhalten, oder um in der Zivilbevölkerung untertauchen zu können.Der Schlüsselfaktor bei einer dauerhaften Beendigung eines Aufstandskrieges besteht im Aufbau von Governance-Strukturen (politische Regelungsmechanismen staatlicher, halbstaatlicher oder gesellschaftlicher Art). Diese stellen eine Schnittstelle von staatlichen oder gegenstaatlichen Institutionen und der Bevölkerung dar.

Die Konfliktpartei, der es gelingt diese durch funktionierende und legitime Governance-Strukturen an sich zu binden (etwa durch ein faires und sauberes Rechtswesen, eine an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientierte Verwaltung), hat die beste Chance, die Loyalität großer Teile der Gesellschaft zu gewinnen - und auf dieser Grundlage auch den militärischen Gegner politisch so sehr schwächen, dass er schrittweise die Basis zur Fortsetzung des Krieges verliert. Erst auf dieser Grundlage können militärische Mittel einer Regierung mehr, als Zeit gewinnen.

Für die Beendigung des Krieges in Afghanistan bedeutet dies, dass ein militärischer Sieg über die Taliban und die andere Aufständischen zu vertretbaren humanitären Kosten kaum möglich ist, solange nicht zwei miteinander verbundene Voraussetzungen hergestellt werden können: Einmal die politische Diskreditierung der Taliban, die kaum militärisch zu erreichen ist; zugleich ist nötig, dass der afghanische Staat von der Bevölkerung angenommen werden kann und als ihrer erscheint.

Das Friedensgutachten 2009 - Zusammenfassung
Eine Verbindung staatlicher Stellen zu verbrecherischen Warlords oder zu Drogenhändlern, ein von Korruption zerfressener Staat, der die Bevölkerung bestiehlt, ohne ihr etwas zu bieten, ein oft repressiver Staat, der trotzdem in vielen ländlichen Gegenden kaum präsent ist - ein solcher Staat ist durch fremde Truppen kaum zu unterstützen, zu stabilisieren oder zu verteidigen, ohne den Widerstand noch zu stärken. Eine höhere Dosis an Soldaten oder mehr Entwicklungspolitik allein werden den Trend zur steigenden Gewalt und Eskalation des Krieges nicht stoppen. Beides kann wichtige Beiträge leisten - unter der Voraussetzung, dass der afghanische Staat die Bürger für sich gewinnt.

Schnittstelle von Staat und Gesellschaft

Die beiden Säulen von "Sicherheit" und "Entwicklung" können die Last nicht tragen, sie sind nur stabil, wenn sie zur Absicherung einer dritten und entscheidenden Säule dienen, der Governance-Säule. Die Stärke der Taliban liegt nicht in ihrer eigenen Kraft, sondern im gesellschaftlichen Vakuum, das aus der Schwäche und Deformationen des afghanischen Staates resultiert - und das dieser versucht, durch ausländische militärische und zivile Hilfe zu überspielen. Eine realistische Friedensstrategie muss daran ansetzen, dieses Vakuum zu füllen, bzw. seine Entstehung zu verhindern.

Und dazu sollte die Schnittstelle von Staat und Gesellschaft ins Zentrum der Afghanistanpolitik gestellt werden. State-Building an der Spitze muss endlich durch den Aufbau einer bürgernahen Staatlichkeit an der sozialen Basis ergänzt werden, und zwar bis in die Bezirke und Dörfer. Den Taliban kann nur das Wasser abgegraben werden, wenn der Staatsapparat an der Wurzel der Gesellschaft und flächendeckend mehr anzubieten hat als diese, wenn er gesellschaftlich integriert und zum Ausdruck gesellschaftlicher Bedürfnisse wird - und seine Versprechen auch einlöst.

Um einen solchen funktionierenden und legitimen Staatsapparat herum können Entwicklungs- und Sicherheitspolitik wichtige Flankierungsfunktionen übernehmen - aber ohne die Schaffung eines solchen Staates ist alles nichts. Wenn die Afghanistanstrategie darin besteht, den afghanischen Staat zu unterstützen und zu verteidigen, dann muss dieser Staat auch tatsächlich und überall existieren - und er muss es in den Augen der Bevölkerung auch wert sein, verteidigt zu werden.


Jochen Hippler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) an der Universität Duisburg-Essen. Er ist einer der Autoren des Friedensgutachtens, das fünf deutsche Friedensforschungsinstitute einmal im Jahr vorlegen.


Erscheinungsdatum 22.06.2009

Quelle: http://www.fr-online.de/in_und_ausland/politik/doku_und_debatte/?em_cnt=1807537&em_loc=3623

Mehr Informationen: http://www.afghanistankampagne.de

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