Dies ist das Archiv der alten DFG-VK-Webseite. Sie war von 2007 bis 19. Oktober 2015 online. Schau Dich gern um.
Die aktuelle Seite findest Du unter www.dfg-vk.de.

Nahost: Der Krieg an Ägyptens Toren04.01.2009

http://www.fr-online.de

Rafah. Am Himmel ist das helle Röhren einer israelischen Drohne zu hören. Links stehen aufgereiht orange Krankenwagen des ägyptischen Gesundheitsministeriums. Rechts wienern Rekruten zwei weiß-rote Krankenbusse der Armee, die jeweils vier Verletzte aufnehmen können. Die Sanitäter in ihren grünen Uniformen stehen in Grüppchen zusammen, schwatzen und vertreten sich die Füße. Ihr Chef Emaddin Charbush, Direktor der Notfallrettung in Nordsinai, mustert rauchend den Hof des Grenzübergangs von Rafah, der den Gazastreifen mit Ägypten verbindet.

Oder besser gesagt verband. Seit Monaten sind die modernen Abfertigungsterminals praktisch menschenleer. Ägypten hält seine Grenze zu der übervölkerten palästinensischen Enklave genauso hermetisch abgeriegelt wie Israel. Etwas versteckt neben dem Gebäude stehen sechs Mannschaftswagen der gefürchteten Sondereinheiten des Innenministeriums. In dem Duty Free Shop verstauben die letzten Stangen von American Legend Zigaretten. Hinter dem Schalter für Ausreisegebühren sitzt ein Kassierer vor einem leeren Tisch und hört Radio. Aus den offenen Türen des Wachpersonals schallt ab und zu ein Lachen.

Kurz vor zwölf Uhr entsteht plötzlich Bewegung an den eisernen schwarzen Doppeltoren. Auf palästinensischer Seite ist ein Krankenwagen aufgetaucht - der erste an diesem Tag. Langsam rollt er durch die mit Stacheldrahtrollen gesäumte Einfahrt. Der Mann auf der Trage ist bewusstlos, als ihn vier ägyptische Sanitäter umbetten und in ihren Wagen schieben. Sein Kopf ist weiß umwickelt, Schläuche führen in den Mund, zwischen den Beinen liegt ein Atemgerät. Nidal Farrah, Arzt aus dem Europäischen Krankenhaus in Chan Junis, hat ihn hierher begleitet. "Er hat eine Schusswunde am Kopf und braucht in den nächsten 24 Stunden eine Hirnoperation", sagt er. "Dann hat er vielleicht noch eine Chance zu überleben."

Sieben Tage herrscht jetzt Krieg vor Ägypten. Den Grenzstreifen, den alle hier Philadelphia nennen, haben israelische Kampfflugzeuge bereits mehrfach bombardiert, um Schmuggeltunnel zu zerstören. Fast 420 Menschen wurden in Gaza seit Kriegsbeginn am Samstag getötet und 2200 verwundet, doch jeden Tag kommen nur etwa zwei Dutzend Opfer in Rafah an. So auch ein achtjähriger Junge, der sich auf der Trage krümmt. Mit im Krankenwagen sitzt sein weinender Vater. Das große weiße Kuvert mit den Röntgenaufnahmen seines Sohnes hält er hinter dem Rücken, als wolle er es nie mehr ansehen müssen. Das Kind sei von einem Bombensplitter schwer am Kopf verletzt, sagt der junge Arzt, der mitgekommen ist. Dann rennt er zum Wagen - keiner der palästinensischen Krankentransporter bleibt länger als fünf Minuten, bevor sie in den Gazastreifen zurückeilen.

Ägypten steht unter immer stärkerem Druck, weil es seine Grenze nicht für Gazabewohner öffnet, die sich vor dem israelischen Bombenhagel in Sicherheit bringen wollen. Silvester demonstrierten im Zentrum Kairos 3000 Menschen und skandierten "Mubarak, worauf wartest du" und "Wir sind alle Palästinenser". In Jemen und Libanon griffen Demonstranten die ägyptischen Botschaften an.

Schiitenchef Hassan Nasrallah rief die Bevölkerung am Nil auf, zu Millionen auf die Straße zu gehen und "mit offener Brust" die Öffnung des Grenzüberganges zu erzwingen. Seither werden auch Kairos Diplomaten in Beirut besonders bewacht.

Gereizt verbat sich Präsident Husni Mubarak in einer Fernsehansprache an sein Volk jede Einmischung arabischer Politiker und erklärte, er habe die "palästinensischen Brüder" mehrfach vor einem israelischen Angriff gewarnt, falls sie den Waffenstillstand nicht erneuern. Am Grenztor in Rafah bot seine Regierungspartei sogar 50 Jubelägypter auf, die blasse Kopien mit Mubarakporträts in die Kameras der angereisten Fernsehteams schwenkten.

Ägypter schießen auf fliehende Palästinenser - solche Bilder will Kairo unter allen Umständen vermeiden. An jedem Feldweg, der zu der zwölf Kilometer langen Grenze führt, sind Eisensperren aufgestellt, hinter denen jeweils vier Sonderpolizisten mit schwarzen Schildern und Helmen stehen. Die ganze Region ist zu militärischem Sperrgebiet erklärt. Die Stadt Rafah ist von einer Betonmauer zerschnitten. Viele hier haben Verwandte auf der palästinensischen Seite, die sie seit Jahren nicht gesehen haben.

Anfang der Woche versuchten Hunderte Menschen, mit einem Bulldozer nach Ägypten durchzubrechen. Grenzer feuerten Warnschüsse ab und jagten die Leute zurück. Zwei Kugeln von palästinensischer Seite trafen einen Offizier und töteten ihn, sieben seiner Kollegen wurden verletzt.

Nun will Ägypten, das für sich die Rolle der arabischen Vormacht beansprucht, wenigstens auf humanitärem Feld punkten. "Es kommen nicht viele rüber", räumt Tarek al Muhallawi ein, Chef der Sanitätsdienste in Nordsinai. In Gaza fehle es an Krankenwagen und an Ärzten. "Das größte Problem ist jedoch, dass Hamas den Verletzten nicht erlaubt, zu uns kommen." Kontakt zu palästinensischen Krankenhäusern jedoch haben die ägyptischen Behörden nicht. Es gibt keinerlei Koordination zwischen beiden Seiten.Stattdessen ist um die wenigen Verletzten, die rauskommen, ein harter Prestigekampf entbrannt. Hamas will verhindern, dass Ägypten sich vor der Weltöffentlichkeit als helfende Brudernation präsentiert. Ägypten will möglichst alle Opfer behalten, um seinen Kritikern in der arabischen Welt etwas entgegenhalten zu können. Aber auch andere Nationen wollen nicht abseits stehen. Libyen und Dubai haben Lieferungen mit Antibiotika, Tetanus-Impfstoff und Narkosemitteln geschickt, die auf dem Zollhof von Rafah in einem Container-Lastwagen aus Gaza-Stadt umgeladen werden.

Auf dem Regionalflugplatz von El-Arish, der 30 Kilometer von der Grenze entfernt liegt, treffen immer mehr Sanitätsflugzeuge ein. Die beiden supermodernen fliegenden Krankenhäuser vom Typ Hercules aus Saudi-Arabien stehen schon seit vier Tagen auf dem Rollfeld. "Es wurden 2000 Menschen verwundet, jeden Tag kommen zwanzig raus, wo sind die übrigen - ich weiß es nicht", sagt Khalid al Hibshi, ausgebildeter Chirurg und Chef des saudischen Hilfsteams.

Zwei bis drei Tage werde man noch warten, dann wieder heimfliegen, sagt einer seiner Mitarbeiter. Diese Drohung hat offenbar geholfen. Am Neujahrsabend gab Kairo schließlich nach. Das erste saudische Klinikflugzeug konnte mit neun Schwerstverletzten Richtung Riad abheben. Kurz danach startete eine jordanische Maschine mit acht Opfern nach Amman.

Doch schon am nächsten Tag kehrten auch die Frustration für die angereisten arabischen Helfer zurück. Sechs Stunden schon steht am Freitagmorgen ein Konvoi aus Katar vor dem geschlossenen Gatter. "Alle sind hier wütend auf die Ägypter", sagt Ali al Saudi von der Stiftung Aid al Thami, die der Herrscherfamilie des Emirats gehört. "Die lassen uns hier warten und drinnen sterben die Leute." Katar hat neben Medikamenten auch Lebensmittel geladen, aber die wollen die Ägypter nicht durchlassen. Dafür sei Israel zuständig, hieß es.

"Wir haben dafür kein Verständnis", schimpft der Direktor des staatlichen Hilfswerks von Katar, Abdullah Hussein, und spielt nervös an seiner gelben Gebetskette. An jedem der zehn Checkpoints auf der kurzen Strecke zwischen El-Arish und der Grenze hätten die Helfer ihre Pässe vorzeigen müssen. Dann wird er noch deutlicher. "Warum bestrafen Israel und Ägypten diese Menschen - vielleicht haben ihre Regime entschieden, dass sie alle sterben sollen", und deutet auf das geschlossene Tor. "Dies alles hier spricht doch für sich."

Wer nicht das Glück hat, von den Saudis mitgenommen zu werden, den bringen ägyptische Krankenwagen von Rafah nach Kairo. Anwar Eid al Sachawany liegt auf Zimmer 403 des staatlichen Nasser-Instituts. Die Klinik gehört zu den besten der ägyptischen Hauptstadt und versorgt bislang 27 Gazaopfer, fünf davon auf der Intensivstation. Vor der Blockade nach der Machtübernahme durch Hamas im Juni 2007 beschäftigte der 35-Jährige in seiner Baufirma 40 Angestellte, zuletzt waren es noch eine Handvoll. Er habe gerade mit drei seiner Leute zusammengestanden, um über die Arbeit zu sprechen, als drei Raketen einschlugen, berichtet er. Die anderen Männer waren auf der Stelle tot, er selbst wurde von der Straße auf einen Balkon im ersten Stock geschleudert, wo ihn seine Nachbarn fanden. Ein Arm und ein Bein sind zerschmettert. Vor ihm auf dem Krankentisch liegt eine Rose, die er von einem ägyptischen Besucher geschenkt bekommen hat. Das Krankenhaus in Gaza-Stadt konnte ihm nicht helfen.

Sein Cousin Jamal, der in Kairo studiert hat und in Gaza-Stadt als Englischlehrer arbeitet, brachte ihn schließlich auf eigenen Faust zur Grenze und ist auch mit nach Kairo gekommen. Er sieht die Hamas durch die israelischen Angriffe nur gestärkt. "Die Leute unterscheiden nicht mehr zwischen Hamas und Fatah", sagt er. "Unser Hass auf das israelische Volk wird immer größer." Die Menschen hätten gehofft, Israel werde als Gegenleistung für den Waffenstillstand die Blockade aufheben. Doch nichts habe sich geändert, es sei immer noch schlimmer geworden. "Gebt uns endlich ein Leben, was sich zu leben lohnt."

VON MARTIN GEHLEN

Quelle: Frankfurter Rundschau Online vom 02.01.2009

Mehr Informationen: https://www.dfg-vk.de/thematisches/aktuelle-kriegsgebiete/0000/28

[zurück]

Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen • 2018 • Impressum