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ZEIT-online: NATO Sollte abziehen09.10.2008

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Es ist Zeit, sich aus Afghanistan zurückzuziehen. Aber der Westen darf das Land nicht aufgeben

Von Ulrich Ladurner

Möchten Sie wissen, wie viele Taliban es gibt? Einer UN-Schätzung aus dem Jahre 2007 zufolge sind es rund 3000 aktiv kämpfende und weitere 7000 Gelegenheitskrieger. Nicht wirklich viele. Trotzdem herrscht die Meinung vor, dass die Taliban das mächtigste Militärbündnis der Welt, die Nato, besiegen, Kabul erobern und eine Bedrohung für die Welt werden könnten. 10.000 Kämpfer, die weder über Panzer noch Artillerie, noch Flugzeuge verfügen. Nun ja, sagen die Analysten, das sei nun einmal das Wesen der asymmetrischen Kriegsführung, dass ein weit unterlegener Feind einem unvergleichlich Überlegenen eine krachende Niederlage zufügen kann. Möglich ist das nur, wenn der Überlegene in der einheimischen Bevölkerung kein Vertrauen genießt und es ihm nicht gelingt, den eigenen Leuten die Mission zu vermitteln.

Beginnen wir mit den Zahlen. Seit 2001 haben die USA 127 Milliarden Dollar für den Krieg in Afghanistan ausgegeben. Zurzeit pumpt das Pentagon fast 100 Millionen Dollar täglich nach Afghanistan. Im Vergleich dazu haben alle Geberländer zusammen seit 2001 für Wiederaufbauhilfe nur sieben Millionen Dollar pro Tag. Noch schlechter sieht die Bilanz aus, wenn man sie mit Hilfsleistungen in einer Region der Welt vergleicht, in der der Westen ebenfalls militärisch interveniert hat: in Bosnien. Dort hat der Westen in den ersten beiden Jahren nach seinem Eingreifen 679 Dollar pro Kopf ausgegeben, in Afghanistan gab es im selben Zeitraum gerade mal 57 Dollar pro Kopf. Nun entspricht ein Dollar in Afghanistan nicht einem Dollar in Bosnien – doch werden die Einsätze in beiden Ländern ganz unterschiedlich begründet.

Die Nato ist nur eine neue Kriegspartei auf einem alten Schlachtfeld

Die Intervention in Bosnien legitimierte die Nato mit dem Argument, man müsse dort Menschenrechtsverletzungen unterbinden. Srebrenica war das Stichwort. In Afghanistan aber ging es um etwas ganz anderes. Hier stand und steht angeblich die Existenz des Westens auf dem Spiel. »Deutschlands Freiheit wird auch am Hindukusch verteidigt!« – dieser Satz, den der damalige deutsche Verteidigungsminister Peter Struck den Soldaten mit auf den Weg gab, muss bis heute als legitimatorische Grundlage für den Afghanistaneinsatz herhalten. Was er sagen will, ist: Wenn der Westen in Afghanistan jetzt nicht mit Truppen präsent ist, wenn dieses Land auf Dauer nicht stabilisiert wird, macht sich dort wieder al-Qaida breit, und das wird zu verheerenden Anschlägen in westlichen Ländern führen. Einmal angenommen, dass dieser tödliche Automatismus sich wirklich entfalten könnte, warum sind die eingesetzten Mittel des Westens dann so gering? Wenn die Bedrohung so tödlich ist, warum hat die Bundesregierung das Thema über Jahre praktisch verschwiegen?

Es gibt darauf nur drei mögliche Antworten: Der Westen handelt fahrlässig; er kann es nicht besser; die Rede von einer existenziellen Bedrohung ist nicht so ernst gemeint. Wie auch immer die Antwort ausfallen wird, Afghanistan ist für das heimische Publikum auch nach sieben Jahren abstrakt geblieben. Selbst die Bundeswehrsoldaten vor Ort plagt das Gefühl, alleingelassen zu sein. Winfried Nachtwei von den Grünen hat kürzlich das Land bereist und berichtet von Klagen der Soldaten. Niemand könne ihnen überzeugend den Sinn des Einsatzes erklären. Jeder Verlust, den die Soldaten erleiden, potenziert sich dadurch und untergräbt die Moral. Wenn der Sinn einer Mission erst verloren ist, lässt er sich nicht einfach wieder herstellen.

Hatte der Einsatz überhaupt je einen Sinn? Als am 11. September die Türme des World Trade Center einstürzten, war schnell klar, dass Afghanistan Ziel eines amerikanischen Vergeltungsschlages sein würde. Die UN verabschiedeten die Resolution 1368, womit sie den militärischen Einsatz der USA auf eine etwas wackelige völkerrechtliche Grundlage stellten. Die USA hätten als Angegriffene das Recht auf Selbstverteidigung. Die Nato erklärte zum ersten Mal in ihrer Geschichte den Verteidigungsfall.

Die Planer im Pentagon hatten das Schicksal der Sowjetunion im Auge, die nach zehn Jahren Besatzung geschlagen aus Afghanistan abziehen musste. Daher wollten sie sich auf keinen Fall in Bodenkämpfe verwickeln lassen. Sie führten nahezu ausschließlich einen Luftkrieg. Den Kampf am Boden, soweit es denn einen gab, führte die mit den USA verbündete Nordallianz – eine Koalition aus Tadschiken, Hasara und Usbeken. Nach sechs Wochen stürzte das Taliban-Regime – das war schneller als selbst Optimisten angenommen hatten.

Was man im Siegestaumel nicht sehen wollte, war, dass dieser Krieg nur eine Runde in einer Abfolge von verschiedenen Kriegen der letzten 30 Jahre war. Alle Kriegsparteien, ob Taliban oder Nordallianz, hatten ihre Sponsoren, Pakistaner, Iraner, Inder, Russen. Der Westen begab sich auf ein Schlachtfeld, auf dem regionale Mächte seit Jahrzehnten Stellvertreterkriege ausfochten. War der propagierte Kampf gegen al-Qaida dieses Risiko wert? Wenn ja, wie wollte man ihn gewinnen? Gegen welche ausländischen Sponsoren afghanischer Parteien sollte man sich stellen, mit welchen verbünden? Wie wollte man vermeiden, nur eine weitere Kriegspartei zu werden? Schließlich: Was ist das überhaupt, ein Sieg in Afghanistan? Alles Fragen, ohne Antworten. Trotzdem stürzte man sich in den Kampf.

Nach dem Ende des Taliban-Regimes richtete die rot-grüne Bundesregierung die Petersberger Konferenz aus. Dort wurden alle jene Ziele formuliert, die man formulieren muss, wenn Demokratien in fremden Ländern intervenieren. Afghanistan sollte eine Verfassung bekommen, danach sollten freie Präsidentschafts- und Parlamentswahlen abgehalten werden. Die Menschenrechte sollten geschützt werden, wobei die Burka als Symbol für die Unterdrückung der Frau im Zentrum stand. Die Petersberger Konferenz war von der Einsicht geleitet, dass nur ein Afghanistan, das seine Bürger einigermaßen an der Macht beteiligte, ein stabiles Afghanistan sein könnte. Wer sich kurz nach dem Sturz der Taliban im Lande aufhielt, kann sich noch gut an die Hoffnung erinnern, die damals unter den Afghanen aufkeimte. Tatsächlich beteiligten sie sich am Aufbau des neuen Landes. Sie gaben sich eine Verfassung (2003), sie wählten unter schwierigsten Bedingungen einen Präsidenten (2004) und ein Parlament (2004). Es entstanden die Säulen eines demokratischen Gebäudes – und sie stehen bis heute. Doch wer zog in dieses Gebäude ein?

Die Afghanen erhofften eine Entwaffnung der Kriegsherren

Mit Schrecken sah das afghanische Volk, dass die Kriegsherren, die das Land jahrzehntelang geschunden hatten, die wichtigsten Plätze im neuen Afghanistan besetzten. Unmittelbar nach dem Ende der Taliban war in Kabul der Satz zu hören: »Die 38 reichsten Nationen helfen einem der ärmsten Länder der Welt. Das muss doch funktionieren!« Was die Afghanen mit »helfen« meinten, war vor allem eines: Gerechtigkeit schaffen. Die Übeltäter, die allen bekannt waren, sollten aus dem Verkehr gezogen werden. Dabei ging es nicht um Tausende von Personen, die Bestrafung einiger, herausragender Verbrecher hätte genügt, um eine klare Botschaft zu senden: Die Zeit der Straflosigkeit ist vorbei. Das hätte dem Einsatz des Westens auch einen Sinn gegeben. Nichts dergleichen geschah. Im Gegenteil, der erste UN-Sonderbotschafter für Afghanistan, Lakhdar Brahimi, machte klar, dass man zwischen »Frieden und Gerechtigkeit« wählen müsse – beides gleichzeitig gebe es in Afghanistan nicht. Im Klartext: Die Kriegsherren werden nicht bestraft, um die Ruhe im Land zu bewahren. Man versuchte erst gar nicht, sie anzutasten. Die US-Truppen wollten das nicht, weil sie sich bei ihrer Jagd auf al-Qaida auf die Kriegsherren stützten; die Europäer versuchten es nicht, weil sie zwar Truppen schickten, aber auf keinen Fall in den Konflikt hineingezogen werden wollten.

Es gab im Jahr 2002 noch einen anderen Satz, den man in Afghanistan oft hörte: »Wenn das mächtigste Militärbündnis der Welt diesen Männern nicht die Kalaschnikow entreißt, wie kann man erwarten, dass wir es tun?« Also tat es niemand. Die Folge war, dass das bis dahin Erreichte sehr schnell zu einer demokratischen Fassade verkam – dahinter verbarg sich die altbekannte Mischung aus Kriegsherren, Drogenbaronen und Stammesfürsten. Man nennt dies das »informelle Netzwerk«, und es hat wenig mit westlichen Demokratievorstellungen zu tun.

Das Klima der Straflosigkeit untergrub in den ersten beiden Jahren des Einsatzes das Vertrauen der afghanischen Bevölkerung in den Westen. Genau in dieser Zeit, zwischen 2002 und 2004, konnten sich die schon geschlagen geglaubten Taliban neu organisieren. Je schlagkräftiger die Taliban wurden, desto mehr setzten die USA auf Luftangriffe. Das führte zwangsläufig zur weiteren Entfremdung der Bevölkerung. Als Reaktion darauf verstärkte die Nato die Truppen, was sie noch mehr als Besatzungsarmee erscheinen ließ. Ein Teufelskreis war in Gang gesetzt. Die Entfremdung findet auf fast allen Ebenen statt. Auch dazu eine Zahl. Die Geberländer haben Afghanistan seit 2001 insgesamt 25 Milliarden Dollar Wiederaufbauhilfe zugesagt, davon sind aber bis heute nur 15 Milliarden ausbezahlt worden. Und von diesen 15 Milliarden sind unglaubliche 40Prozent wieder an die Geberländer in Form von Unternehmensprofiten und Gehältern zurückgeflossen. Mit anderen Worten: Viele Afghanen gewannen den Eindruck, dass die Ausländer sich selbst bereichern. Wachsende Xenophobie machte sich breit. Das nützte den Taliban.

Es wäre sehr falsch zu sagen, dass der Einsatz des Westens nichts gebracht hätte. Viel Gutes ist erreicht worden. Sechs Millionen Kinder, 50Prozent der Schulpflichtigen, gehen regelmäßig zur Schule, davon sind ein Drittel Mädchen. Das ist eine Verfünffachung im Vergleich zu 2001. Heute haben 85Prozent der Bevölkerung Zugang zu Basisgesundheitsdiensten. Die Kindersterblichkeit ging um 25Prozent zurück. Eine, wenn auch kleine, demokratisch orientierte afghanische Elite bildet sich heraus. Viele Erfolge also, aber insgesamt kein großer, nachhaltiger Erfolg – dafür sind die Voraussetzungen nicht mehr gegeben.

Was also tun? Es ist Zeit, den Rückzug zu planen. Das bedeutet nicht: Schnell die Tür zu und weg. Es bedeutet nicht, dass man Afghanistan sich selbst überlassen sollte. Es bedeutet, dass man nicht noch mehr Soldaten nach Afghanistan schicken sollte, sondern ihren Abzug vorbereitet. Der militärische Einsatz muss ein stufenweises Ende finden. Bevor die Soldaten abziehen, sollte alle Kraft auf den Aufbau einer schlagkräftige afghanischen Armee und einer effizienten Polizei gerichtet werden. Die Mittel für humanitäre Hilfe sollten nicht gekürzt werden, und die Helfer sollten bleiben, sofern es die Sicherheit zulässt. Die Sicherheitslage wird sich aber nur verbessern, wenn man von einigen Illusionen Abschied nimmt. Gegen den Willen der Nachbarländer ist Afghanistan nicht zu befrieden. Sie müssen daher mit einbezogen werden. Die Präsenz der Nato schafft in der jetzigen Lage nicht Sicherheit, sondern mehr Unsicherheit. Es geht in Afghanistan für den Westen nicht um »alles oder nichts«. Die Nato kann aus Afghanistan abziehen, ohne daran zugrunde zu gehen. Und schließlich: Den Taliban geht es nicht darum, morgen einen zweiten 11. September zu veranstalten, es geht ihnen darum, die Ausländer aus Afghanistan zu verjagen. Taliban ist nicht gleich al-Qaida. Darum soll die afghanische Regierung mit den Taliban verhandeln – was im Übrigen gerade geschieht. Gebraucht wird eine afghanische Lösung für Afghanistan.

Quelle:
ZEIT ONLINE 42/2008 S. 17 http://www.zeit.de/2008/42/Afghanistan

Mehr Informationen: http://www.afghanistankampagne.de

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