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Arretiert in Vorpommern15.05.2008

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Kriegsdienstverweigerer in Pasewalker Bundeswehrkaserne im Hungerstreik. Verteidigungsministerium verbreitet weiterhin die Mär der Wehrgerechtigkeit
Von Ralf Wurzbacher

Um bei der Bundeswehr Informationen über den Fall des seit vier Wochen unter Militärarrest stehenden Totalverweigerers Matthias Schirmer einzuholen, muß der ganz lange »Dienstweg« beschritten werden. Zunächst wird man vom Chef der 6. Kompanie des Logistikbataillons 142 in der Kaserne Viereck bei Pasewalk in Mecklenburg-Vorpommern an den »zuständigen« Presseoffizier verwiesen. Von dem erfährt man nichts, »weil das auf einer anderen Ebene behandelt wird«. Die befindet sich in Koblenz beim Presse- und Informationszentrum des Heeres, dessen Sprecher von seinem Bulletin abliest, Schirmer sei »wohlauf, wird ärztlich betreut«, aber »mehr kann ich nicht sagen«. Für rechtliche Fragen müsse man sich ans Verteidigungsministerium in Berlin wenden. Dort schreibt man junge Welt umgehend ins Stammbuch, daß es »Totalverweigerer eigentlich gar nicht gibt«.

Die Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) weiß mehr zu berichten. Deren Geschäftsführer Monty Schädel hatte zuletzt am Montag Kontakt zu Schirmer. Der junge Mann aus Friedrichshafen am Bodensee befindet sich seit vergangenem Freitag im Hungerstreik, nachdem er zum zweiten Mal zu 21 Tagen Haft verdonnert worden war. »Es geht ihm den Umständen entsprechend ganz gut«, sagte Schädel am Mittwoch gegenüber jW. Allerdings habe der 21jährige von verschiedenen Schikanen der Vorgesetzten gesprochen. So habe man ihm »Pizza und ähnliches angeboten«, außerdem sei er in die Kantine geführt worden, um den Soldaten beim Essen zuzusehen. Außerdem habe man ihm mit Zwangsernährung gedroht. »Solche Maßnahmen tun seinem Willen, bis zum Ende des Arrests durchzuhalten, aber keinen Abbruch, sie bestärken ihn eher noch zusätzlich«, betonte Schädel.

Schirmer wurde zum 1. April zur Truppe nach Viereck einberufen, erschien jedoch nicht zum Dienst, woraufhin ihn Feldjäger fünf Tage später zur Kaserne verschleppten. Er bezeichnet die Wehrpflicht als »nicht vereinbar mit Demokratie und Freiheit sowie den Menschenrechten« und verweigert deshalb sowohl den Dienst an der Waffe als auch den Ersatzdienst. Zivildienstleistende seien im Gesamtkonzept der sogenannten Landesverteidigung mit eingeplant, wirkten somit kriegsunterstützend und kaschierten in vielen Bereichen des Sozialwesens den finan­ziellen und personellen Notstand, meint Schirmer. Auch sehe er es nicht ein, als billige Arbeitskraft ausgebildeten Fachkräften den Job streitig zu machen.

Neben Schirmer ist derzeit auch der Totalverweigerer Silvio Walther in der Kaserne Bad Reichenhall in Bundeswehrgewahrsam. Gegen ihn wurde zudem eine Geldbuße von 120 Euro verhängt, eine laut DFG-VK »ungewöhnliche Strafe im Umgang mit Kriegsdienstverweigerern«. Die Organisation weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß die Fälle von Einberufung und Disziplinierung totaler Verweigerer seit 2007 nach dreieinhalbjähriger Unterbrechung wieder zugenommen haben. Monty Schädel sieht darin das Bemühen bei der Truppe, einerseits »nach innen die Ordnung herzustellen« sowie nach »außen darzustellen, daß die öffentlich stark in Zweifel gezogene sogenannte Wehrgerechtigkeit weiterhin Geltung hat«.

Erst kürzlich hatte das Verteidigungsministerium eingeräumt, daß im zurückliegenden Jahr fast jeder zweite junge Mann als kriegsdienstuntauglich ausgemustert worden war. Kritiker werten das als statistischen Trick, zumindest den Schein von »Wehrgerechtigkeit« zu wahren. Nach Abzug der Zahl der Kriegsdienstverweigerer und »Wehrdienstausnahmen« wird inzwischen nur noch rund ein Drittel aller Wehrpflichtigen eines Altersjahrgangs einberufen. »Das Prozedere ist zu einer unkalkulierbaren Lotterie geworden«, monierte Schädel. Tatsächlich sei Schirmer von 14 Schülern seiner Klasse der einzige gewesen, den es erwischt habe.

Beim Bundesverteidigungsministerium in Berlin will man davon nichts hören. Man erziele eine »Ausschöpfungsquote von durchschnittlich 80 Prozent«. Das entspreche dem, was das Bundesverwaltungsgericht in einem Urteil von 2005 als Größenordnung von Wehrgerechtigkeit definiert habe. Dazu ein Ministeriumssprecher auf jW-Anfrage: »Wir befinden uns auf Linie.«

Quelle:
http://www.jungewelt.de/2008/05-15/086.php

Mehr Informationen: https://www.dfg-vk.de/thematisches/kriminalisierung_von_antimilitarismus/

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