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»Eine Hydra mit tausend Köpfen« - Peter Scholl-Latour über die Taliban und Al Qaida, deutsche Arroganz und die Angst des »Weißen Mannes«31.10.2009

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Er ist in der Welt zu Hause. Und hat mit den Großen dieser Welt gesprochen. Seine Prophezeiungen trafen oft ein. Und kaum einer kann aktuelle Geschehnisse mit solch profundem Wissen kommentieren wie PETER SCHOLL-LATOUR (Jg. 1924), langjähriger Auslandskorrespondent und Verfasser von über 30 Büchern. Sein jüngstes, »Die Angst des Weißen Mannes« (Propyläen, 24,90 €), stellte er auf der Frankfurter Buchmesse vor. Mit dem Bestsellerautor und Islamexperten sprach KARLEN VESPER.


ND: »Der Wahn des Himmlischen Friedens« heißt eines Ihrer Bücher. Verstehen Sie die Aufregung um China, das Gastland der Messe?
Scholl-Latour: Das ist die typische deutsche Heuchelei. Diese ewigen Vorwürfe und Scheinappelle. Die Amerikaner haben das längst eingestellt. Die Dissidenten als alleinig glaubhafte Repräsentanten Chinas, Kronzeugen von Zensur und Repression aufzubieten, musste den Zorn des offiziellen Delegationsleiters provozieren. Ich kenne Mei Zhaorong, ein freundlicher Herr, den ich stets konsultiere, wenn ich in Peking bin. Ich verstehe, wenn er sagt: »So konnten Sie vielleicht früher mit uns umspringen. Diese Zeiten sind vorbei.« Die Deutschen sollten sich an ihre eigene Nase fassen, sich an die Hunnenrede von Wilhelm II. in Bremerhaven erinnern, als er im Jahr 1900 das deutsche »Expeditionsheer« zur Niederschlagung des Boxeraufstandes verabschiedete.

»Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht!«
Und sie sollten wie die Hunnen unter König Etzel wüten, damit »es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen«. Schuld am ganzen Theater ist auch, dass es keine deutsche Außenpolitik mehr gibt. Darin bin ich einer Meinung mit einem prominenten Politiker, dessen Namen ich Ihnen aber nicht verrate.

Publikationen in Deutschland verbreiten Furcht: »Chinas Aufstieg – Deutschlands Abstieg«, »Gelbe Spione«. Das klingt schon wie »Die Gelbe Gefahr«. Ist die Angst begründet?
Unsinn. Deutschland ist immer noch Exportweltmeister. Warum missgönnt man China den Aufstieg? Was ist gegen ein ehrgeiziges Volk zu sagen? Seit ich 1972 das erste Mal in China war, hat sich das Land gewaltig verändert, ist Gigantisches vollbracht worden. Die Mehrheit der Chinesen wertet, trotz allen Leids vergangener Jahrzehnte, die Entwicklung seit 1949, vor allem mit den Reformen unter Deng Xiaoping, positiv. Dem verdanke sich Chinas Modernisierung. Statt kaiserliche Arroganz nachzuahmen, sollten wir es mit Leibniz halten, der neugierig nach China blickte. Weil er, wie Voltaire, dort eine auf Friedfertigkeit, Toleranz und Achtung des Wortes der Gelehrten basierende Ordnung zu erkennen glaubte.

Aber China war und ist kein Utopia. Auf dem Platz des Himmlischen Friedens gab es vor 20 Jahren keinerlei Toleranz.
Ja, hätte der Westen 1989 lieber gesehen, wenn das Land in einen Bürgerkrieg fällt? Wenn die Konterrevolution marschiert wäre? Dort Zustände eingezogen wären, wie sie in Russland Gorbatschow herbeiführte, der Experte für Chaosstiftung und Staatsauflösung? Ich war auf dem Tiananmenplatz, zwei Tage nach der gewaltsamen Auflösung der Belagerung. Ich hatte Sympathien für die jungen Idealisten, die sich im Namen der Freiheit in ein Abenteuer gestürzt haben. Inzwischen ereigneten sich zwischen Algier und Bogotá viel grausamere Tragödien, die man nicht immer wieder aufbauscht.

Und wie ist es mit der Toleranz in Tibet bestellt?
Der Aufruhr vor den Olympischen Spielen, die Brandschatzung chinesischer Geschäfte und die Übergriffe, die auch die muslimische Minderheit der Hui trafen, waren Ergebnis präziser Planung.

Wessen? Des Dalai Lama?
Das will ich nicht behaupten. Aber zweifellos durch tibetische Exilorganisationen initiiert, unter Mitwirkung ausländischer Geheimdienste und exzentrischer Figuren des amerikanischen Showgeschäfts. Der Dalai Lama wird benutzt, um gegen die Han-Chinesen und Peking zu hetzen.

Wenn man Sie so reden hört, könnte man denken, Sie sind ein »Kommunistenfreund« geworden?
Es geht nicht um Ideologie, Rotgardisten oder Weißgardisten. Ich wundere mich allerdings, dass heute ausgerechnet jene Chinas Kommunisten belehren wollen, die vor nicht allzu langer Zeit das Abzeichen des »Großen Steuermanns« am Revers trugen und auf dessen Rote Bibel schworen.

Ihr neues Buch befasst sich mit der »Angst des Weißen Mannes«. Ist das nicht eine überzogene Behauptung?
Nein. Seit dem Zweiten Weltkrieg sieht sich der Westen globalen Machtverschiebungen ausgesetzt, denen man schon aus demografischen Gründen nicht gewachsen ist. Dem »Weißen Mann« ist vor allem das Monopol industrieller und militärischer Überlegenheit abhanden gekommen, auf das er bisher seinen imperialen Anspruch gegründet hat.

Das ist doch nicht schlecht?
Sage ich auch nicht. Dem »Weißen Mann« fällt es aber schwer, sich mit der geschwundenen Macht und dem geschwundenen Prestige abzufinden.

Darf auch deshalb Iran keine Atombombe haben?
Das ist wieder so ein Zirkus. Auch hier hinken die Deutschen hinterher. Die Amerikaner sind gar nicht so scharf darauf, sich mit Teheran anzulegen. Die Russen haben sowieso ein gutes Verhältnis zur Islamischen Republik Iran. Und ein Universitätsprofessor in Israel sagte mir: »Wenn ich Iraner wäre, würde ich auch die Atombombe haben wollen. Nicht um sie abzuwerfen, sondern als Abschreckung.« Dass Pakistan im Besitz der Atombombe ist, finde ich sehr viel gefährlicher.

Weil Pakistan ein Pulverfass ist?
Der traditionelle Verbündete der USA ist ein unsicherer Kantonist, latent gefährdet, in den Bürgerkrieg abzugleiten, in die Hände islamistischer Fundamentalisten zu fallen. Was haben die Großoffensiven der pakistanischen Streitkräfte mit US-amerikanischer Hilfe gegen die Terroristen bisher gebracht?

Der Krieg in Afghanistan hat zweifellos Pakistan destabilisiert. Das hätte man wissen können, bevor man ins Land am Hindukusch einmarschierte.
Man hätte so einiges wissen müssen. Die Briten hätten sich an ihr Desaster von 1842 erinnern sollen, als ihre aus Kabul mitsamt Familien abmarschierende Garnison am Khyber-Pass durch Stammeskrieger massakriert worden ist. Was damals so aufschreckend war, dass sogar der deutsche Dichter Theodor Fontane dem eine Ballade gewidmet hat: »Mit Dreizehntausend der Zug begann, einer kam heim aus Afghanistan.«

Man hätte auch die Russen fragen können, die nach zehnjährigem Zermürbungskrieg, trotz einer Besatzerarmee von über 130 000 Mann den Mudschaheddin erlegen waren. Man tat es nicht. Die russische Generalität beobachtet sicher mit einiger Genugtuung, wie die Allianz jetzt in eine ähnlich schmähliche Situation gerät, wie sie einst.

Sollte Deutschland sich jetzt schleunigst zurückziehen?
Ja. Im Gegensatz zu einem ehemaligen deutschen Verteidigungsminister bin ich nicht der Ansicht, dass Deutschland am Hindukusch verteidigt wird. Da wird eher Russland verteidigt. Russland ist viel mehr als alle anderen europäischen Staaten vom Islamismus bedroht. In den südlichen GUS-Staaten residieren ehemalige Parteisekretäre, die sich in orientalische Emire und Sultane verwandelt haben, aber doch den radikalen Islam unter Kontrolle halten. Wenn aber nun ein revolutionärer Islam mit sozialem Anspruch kommt, wird es schwierig. In Russland leben 20 bis 25 Millionen Muslime. Deshalb haben die Russen den Amerikanern für ihre Intervention Verbindungsrouten und Luftstützpunkte in Zentralasien zur Verfügung gestellt. Dieses Entgegenkommen ist ihnen aber schlecht gedankt worden. Mittlerweile haben Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan und Kirgistan mit Russland und China eine Art »Heilige Allianz« gegen den Islamismus geschmiedet.

Auch China wird eher am Hindukusch verteidigt als Deutschland. Uigurische Partisanen und Saboteure sind in Afghanistan ausgebildet worden. Aus Pakistan wandern Prediger ein. Peking hat den Uiguren nach den Exzessen der »Kulturrevolution« eine gewisse Selbstverwaltung gewährt. Aber Sezession wird nicht geduldet.

Wenn die NATO Afghanistan aufgibt, wird sich dann Al Qaida des Landes wieder bemächtigen?
Hier haben wir es auch mit permanenter Desinformation zu tun. Al Qaida ist keine afghanische, sondern eine saudische Organisation. »Nine Eleven« war nicht das Werk afghanischer Freischärler, sondern saudi-arabischer Studenten. Fliegen lernten die Selbstmordattentäter in Florida, Flugpläne studierten sie in Hamburg.

Wie groß und real ist die Gefahr Al Qaida noch?
Das ist ein bunt gescheckter Haufen von Fanatikern, die über den ganzen Dar-ul-Islam, von Marokko bis Indonesien, verstreut sind und die unter 1,3 Milliarden Muslimen abtauchen können. Al Qaida ist nicht auf Höhlen am Hindukusch als Schlupfwinkel angewiesen, sondern verfügt von den Steppen des afrikanischen Sahel bis zum philippinischen Dschungel über Rekrutierungsmöglichkeiten und Rückzugsgebiete. Die westliche Staatengemeinschaft kämpft out of area gegen eine Hydra mit Abertausenden Köpfen.

Und was ist nun mit Afghanistan? Ist das Land noch zu retten?
Die Hoffnung, in Afghanistan hearts and minds, also Herzen und Gemüter, zu gewinnen, ist naiv, eine Schimäre. Da hatten seinerzeit die Sowjets mehr Sympathien in Teilen der Bevölkerung als heute die westliche Allianz. Und das hat ihnen auch nichts genützt.

Aber im Vergleich zur Zeit der Talibanherrschaft hat sich doch einiges verändert?
Was? Dass sich Drogenbarone Luxusvillen errichteten? Über die Shantytowns haben die Behörden und Besatzer keine Kontrolle. Die Festung Kabul ist nicht sicher. Das Paschtuwali, der Ehrenkodex der Paschtunen, kennt die Blutrache. Da muss man sich über Vergeltungsaktionen für die Opfer der Bombardements nicht wundern.

Aber denkt man allein an die frevelhafte Zerstörung eines einmaligen Weltkulturerbes, die Sprengung der Buddhastatuen von Bamiyan, ist man froh, dass die Taliban gestürzt wurden, auch wenn man die militärische Intervention verurteilt.
Die Taliban sind primitive Leute. Bilderstürmerei hat es aber immer und überall gegeben, auch in der Christenheit, auch unter den Reformierten, etwa den Calvinisten.

Der islamistische Terror hat die Weltbühne zeitgleich mit dem Zerfall des sozialistischen Lagers betreten. Gibt es einen Zusammenhang? Algier »La Blanche«, in den 70er/80er Jahren modern und offen, ist seit Anfang der 90er im Würgegriff der Islamisten.
Mit schon über 100 000 Toten.

War die in zwei Lager gespaltene Welt friedlicher?
Die bipolare Welt kannte auch zahlreiche Konflikte. Weltweit wurden blutige Stellvertreterkriege geführt. Aber, wenn es wirklich ernst wurde, war der Kontakt zwischen Moskau und Washington da, um das Schlimmste zu verhindern. Das ist heute nicht mehr der Fall. Insofern ist die Gefahr größer. Und im Vergleich zu den heutigen Spannungen, die ich eher als Folge einer ungezügelten Globalisierung sehe, statt des Niedergangs des Kommunismus, mag der Kalte Krieg von gestern friedlicher erscheinen – aus der Sicht der Westeuropäer und Nordamerikaner, die dank des strategischen Patts der beiden Supermächte relative Sicherheit genossen und sich auf die Mehrung ihres Wohlstands konzentrieren konnten.

Sie registrieren nun aber eine Rückkehr des Kalten Krieges?
Das ist ein ganz anderer Kalter Krieg, ein multipolarer, multilateraler, ohne die angespannte Verlässlichkeit des bipolaren Antagonismus zwischen Washington und Moskau. Nach dem Intermezzo der Pax Americana haben wir ein wiedererstarktes Russland und ein starkes selbstbewusstes China. Und die wachsende islamische Welt. China ist ein verlässlicher Partner. Auch die Russen, wenn man sie nicht provoziert.

Beispielsweise mit Raketenschilden vor ihrer Haustür.
Russland musste Bushs Raketenpläne als unmittelbare Bedrohung werten. Wer will es den Russen verdenken, wenn sie daraufhin die Aufstellung atomarer Lenkwaffen in der verbündeten Republik Belarus oder Kaliningrad erwägen.

Als Barack Obama Abstand von Bushs Raketenschild nahm, waren ihm die Polen gram. Nun hat er einen Rückzieher gemacht.
Man kann die Polen verstehen. Sie waren immer in der Zange, zwischen Deutschland und Russland. Die Russen liebten sie nicht, die Deutschen auch nicht. Ihre Verbündeten, die Franzosen und Engländer, haben sie 1939 schnöde im Stich gelassen. So sind sie zu dem Schluss gelangt: Die Amerikaner sind unser einziger Schutz. Nun dachten sie, Barack Hussein Obama wolle sie im Stich lassen.

Obama erhält den Friedensnobelpreis. Ist das Vorschusslorbeer?
Die Amerikaner mögen es nicht, wenn man ihre Präsidenten im Ausland auszeichnet. Das wissen die in Oslo wohl nicht. Richtig bemerkt haben sie aber, dass Obama sich von den Hegemonialallüren seines Vorgängers distanziert und dem Unilateralismus entsagt hat. Mehr noch: Vielleicht ist es ihm selbst gar nicht bewusst, dass er nicht nur die Vorrangstellung der USA seit 1945 zur Disposition stellt, sondern auch die 500-jährige des »Weißen Mannes«.

Sein gutes Recht.
Richtig. Auf Hawai geboren, mit afrikanischen Wurzeln, aufgewachsen in Indonesien. Das Antlitz der USA, in denen noch Mitte des vergangenen Jahrhunderts offene Apartheid herrschte, wird von Latinos, Afroamerikanern, Asiaten geprägt. Ich befürchte aber, dass sich einige »Weiße Männer« mit dem »Schwarzen Mann« im Weißen Haus nicht abfinden können.

Sie waren Reporter an vielen Kriegsschauplätzen. Und kurzzeitig selbst Soldat. Warum sind Sie 1945 zu den Parachutiste, französischen Fallschirmspringern, gegangen? Jugendliches Abenteurertum? Waren Sie nicht froh wie alle, dass der Krieg vorbei war?
In Europa war er vorbei, nicht in Indochina. Ich bin kurz vor Kriegsende in Gestapohaft geraten und sollte nach Berlin überstellt werden. Dazu kam es zum Glück nicht. Das Todesurteil wäre gewiss gewesen. Weil ich die französische Staatsbürgerschaft hatte, fühlte ich mich damals verpflichtet. Vielleicht auch aus Abenteuerlust. Und um aus Europa wegzukommen. Sie erwarten von mir jetzt nicht, dass ich Kriegserlebnisse schildere?!

Nein. Zu guter Letzt: Waren Sie wirklich in allen Staaten der Erde?
Ja, außer auf ein paar Atollen im Pazifik und in der Karibik. Die suche ich auch noch auf.

Quelle: http://www.neues-deutschland.de/artikel/158318.eine-hydra-mit-tausend-koepfen.html

Mehr Informationen: http://www.afghanistankampagne.de

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