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Vom Drückeberger zur billigen Arbeitskraft - In Stuttgart wurde heute der 2,5-millionste Zivildienstleistende begrüßt12.08.2008

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Von Fabian Lambeck

Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) nannte die Zivildienstleistenden einen „Gewinn für die Gesellschaft“. Doch die Kritiker beurteilen ihre Rolle im Gesundheitswesen zunehmend kritischer: Die ungelernten Hilfskräfte vernichten Arbeitsplätze und drücken die Löhne.

„Zivildienstleistende sind aus unserer sozialen Wirklichkeit nicht mehr wegzudenken“, mit diesen warmen Worten wurde am Montag ein junger Mann in Stuttgart bedacht, der in den nächsten Monaten als kostengünstige Hilfskraft in einer Jugendherberge arbeiten wird. Der Bundesbeauftragte für den Zivildienst, Jens Kreuter, war extra in die schwäbische Metropole gereist, um den „2,5-millionsten Zivildienstleistenden“ seit Einführung des Ersatzdienstes zu begrüßen. Dem 19-jährigen Abiturienten Markus Porada wurde diese besondere Ehre zuteil. Doch was heute zur gesellschaftlichen Normalität gehört, war in den 60er Jahren die exotische Ausnahme. Als man im Juli 1956 die allgemeine Wehrpflicht in der Bundesrepublik einführte, bestand keine Möglichkeit, einen zivilen Ersatzdienst abzuleisten. Erst ab dem Jahr 1961 wurden entsprechende Strukturen geschaffen. Dabei besagt das Grundgesetz, dass niemand gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst gezwungen werden kann.

In den ersten Jahren nach Einführung des „zivilen Ersatzdienstes“ wagten nicht einmal 3000 Wehrpflichtige pro Jahrgang diesen Schritt. Zum Vergleich: Im letzten Jahr wurden über 111 000 junge Männer als Kriegsdienstverweigerer anerkannt. Ein Grund für die anfängliche Zurückhaltung waren auch die diskriminierenden Befragungen, denen sich die Verweigerer stellen mussten. Ein solches Gespräch fand in einer „bösartig-prüfungsmäßigen Atmosphäre“ statt, wie der Pfarrer Ulrich Finckh in einem Tagesschau-Interview meinte. Der Seelsorger betreut bereits seit 1963 junge Kriegsdienstverweigerer und erinnert sich, dass man die Verweigerer pauschal als „Drückeberger“ abstempelte. Nicht wenigen dieser jungen Männer gab man damals den Rat: „Geh doch nach drüben“.

Doch seit den frühen 90er Jahren erfreut sich der Zivildienst wachsender Beliebtheit. Längst sind die Zivis in der Überzahl. Nur noch eine Minderheit entscheidet sich für die Option Bundeswehr. So besetzte man im letzten Jahr rund 68 000 Grundwehrdienstplätze, aber mehr als 88 000 Zivildienststellen. Doch der Ersatzdienst ist keineswegs unumstritten. Selbst erklärte Friedensaktivisten wenden sich gegen dieses „Auslaufmodell“.

So erklärt Monty Schädel von der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), dass es sich auch beim Wehrersatz um einen „Zwangsdienst handelt“, der vor allem Arbeitsplätze vernichte und die Löhne im Pflegebereich drücke. Bereits im Jahre 2005 veröffentlichte die Zeitung „Das Parlament“ einen Artikel, der sich kritisch mit der Rolle des Zivildienstes auseinander setzt. Darin plädiert Peter Tobiassen, Geschäftsführer der Zentralstelle KDV, für eine Jobinitiative im Pflegebereich. Der Pazifist bringt seinen Ansatz auf die Faustformel: „Zwei Arbeitsplätze ersetzen drei Zivildienststellen.“ Die Streichung von 75 000 Zivildienststellen brächte so 50 000 Arbeitsplätze im Gesundheitswesen. Selbst Dirk Meyer, Professor an der Universität der Bundeswehr in Hamburg, meint: „Volkswirtschaftlich wäre eine Abschaffung des Zivildienstes zu fordern.“
Monty Schädel macht auf einen weiteren Nachteil des Einsatzes dieser ungelernten „Pflegekräfte“ aufmerksam: „Insbesondere die Behindertenbetreuung erfordert eine spezielle Ausbildung“, meint der gelernte Erzieher. Doch die großen „Wohlfahrtskonzerne“ setzen nach wie vor auf die billigen Arbeitskräfte. Und so mutmaßen viele Kritiker, die Wehrpflicht werde beibehalten, um weiterhin auf die billigen Zivildienstleistenden zurückgreifen zu können.

Die Wehrgerechtigkeit ist in Deutschland seit längerem nicht mehr gewährleistet. So veröffentlichte der Wehrbeauftragte des Bundestages, Reinhold Robbe (SPD), einige bemerkenswerte Einberufungsstatistiken. Demnach wurden über 60% der jungen Männer des Jahrgangs 1983 entweder ausgemustert oder nicht einberufen. Und so mehren sich die Stimmen, die ein Ende der Wehrpflicht fordern. Die SPD rang sich zu einem innerparteilichen Kompromiss durch und lancierte 2007 ihr Konzept einer „freiwilligen Wehrpflicht“. Doch die Sozialdemokraten scheiterten an der CDU. Die beruft sich auf den Koalitionsvertrag, in dem sich beide Parteien zur Wehrpflicht als „bester Wehrform“ und dem „Zivildienst als Ersatz“ bekennen.


Mehr Informationen: http://www.neues-deutschland.de

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